Leo Schwartz… und das tödliche Geheimnis
Die Freunde Noah und Julian, beide neunzehn Jahre alt, haben ein außergewöhnliches Hobby. Sie heizen nachts mit ihren frisierten Mofas herum; immer dort, wo sie niemand sieht und wo sie nicht gestört werden. Bei einer Challenge auf einem Grundstück bei Burgkirchen verschwindet Julian plötzlich im Erdboden. Noah findet seinen Freund in einem tiefen Loch wieder, auf einem Berg von Fässern und Kanistern liegend. Julian bewegt sich nicht und reagiert auch nicht auf seine Rufe. Noah kann seinem Freund nicht helfen, das Loch ist viel zu tief. Er muss schnell Hilfe holen.
Auf dem unebenen Feldweg kommt er mit seinem Mofa nur langsam voran. Dann bemerkt er einen Wagen hinter sich. Erleichtert steigt er vom Mofa und geht winkend dem Wagen entgegen.
Der Fahrer hält auf ihn zu und gibt Gas. Er muss den vermeintlichen Mitwisser beseitigen…
1.
Der neunzehnjährige Noah Geiger gab alles. Er fuhr mit seinem alten, frisierten Mofa so schnell er konnte, aber das war nicht genug. Er musste Hilfe holen und durfte keine Zeit verlieren. Sein Smartphone hatte er nicht mitgenommen, das lag in Julians Wagen. Er und sein bester Freund Julian Brechtinger nahmen auf ihren nächtlichen Touren nichts mit. Das hatten sie vereinbart, nachdem sie vor acht Monaten einen Geldbeutel verloren aber zum Glück wiedergefunden hatten. Nichts sollte sie behindern oder vielleicht auch verraten. Julian und er fuhren nachts ab und zu mit ihren schrottreifen, nicht angemeldeten und auch nicht für die Straße zugelassenen Mofas auf verlassenem Gelände herum und hinterließen oft Schäden, die sie natürlich nie meldeten. Auch ihre uralten Mofas aus den achtziger Jahren wurden regelmäßig demoliert. Aber das war nicht schlimm, daran bastelten sie dann jede freie Minute, um sie für ihre nächste nächtliche Tour wieder fit zu machen. Niemand wusste von ihrem Hobby, das sie neben der Schule ausübten. Julian und er gingen aufs Gymnasium, nächstes Jahr hatten sie Abitur und danach sollte es auf die Uni gehen. Was sie studieren wollten, wussten sie noch nicht, darüber hatten sie sich nur wenige Gedanken gemacht und dafür war für ihre Begriffe auch noch jede Menge Zeit. Für die Mofas und alles, was dazugehörte, hatten sie in Burghausen eine Garage angemietet, die Kosten hierfür konnten sie locker aus ihren üppigen Taschengeldern bezahlen. Ihre Garage war ihr Reich, hier konnten sie ungestört an ihren Fahrzeugen basteln, was weder bei ihm zuhause, noch bei Julian möglich gewesen wäre. Ihre Familien hätten kein Verständnis für ihr Hobby gehabt. Für seine und für Julians Eltern, die alle sehr erfolgreich waren, stand die Schule im Vordergrund. Musikunterricht oder eine angesehene Sportart wäre noch akzeptabel gewesen. Das Herumschrauben an Mofas und die nächtlichen Touren gehörten nicht zu der Art von Zeitvertreib, die die Eltern für ihre Sprösslinge vorgesehen hätten. Heute Nacht waren sie wieder auf Tour gewesen. Das Gelände war geradezu perfekt für ihr Vorhaben. Bis Julian verunglückte.
Noah gab Gas. Er war fast alleine unterwegs. Normalerweise fuhren er und Julian immer auf Schleichwegen, die sehr viel länger waren. Aber dafür hatte er jetzt keine Zeit. Er musste weg und kam für seine Begriffe viel zu langsam voran. Die sternenklare Julinacht und der Vollmond spielten ihm zu, denn die Reifen hatten nur wenig Profil und die Beleuchtung war sehr spärlich. Für heute Nacht hatte Noah ein Gelände bei Burgkirchen ausgesucht, das mit einem angrenzenden kleinen Waldstück geradezu ideal für eine Challenge zwischen den beiden gewesen war. Wie immer hatten sie die Mofas in den Kofferraum von Julians Auto geladen, das jetzt auf einem Supermarktparkplatz in Burgkirchen stand, von wo aus sie weggefahren waren. Das war sein Ziel, dort wollte er hin. Der Autoschlüssel lag wie immer unter dem linken Vorderreifen.
Noah war nicht mehr weit entfernt. Er hatte vielleicht noch drei Kilometer vor sich, musste die Straße überqueren und dann konnte er endlich Hilfe holen.
Julian konnte er nicht helfen, dazu war er nicht in der Lage. Sein bester Freund war einfach im Boden verschwunden, mitsamt seinem Mofa. Das ging alles so schnell, dass er nicht reagieren konnte.
Noah war sofort zu ihm geeilt und konnte nicht fassen, welch tiefes Loch vor ihm lag. Wie sollte er da hineingelangen? Mehrmals rief er Julians Namen, aber der antwortete nicht. Irgendwie gelang es Noah, mit der lächerlichen Funzel seines Mofas in das Loch zu leuchten. Endlich sah er Julian und das Mofa auf einem Berg von Fässern. Sein Freund bewegte sich nicht. Noah war verzweifelt. Er rief und schrie, bis er sich endlich dazu entschloss, Hilfe zu holen. Dafür musste er zur Hauptstraße. Hier in dieser verlassenen Gegend gab es niemanden, der ihm helfen konnte.
Noah fuhr auf dem schmalen Feldweg, den er in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Er kam nur langsam voran, viel zu langsam. Vielleicht gab es noch Hoffnung für seinen Freund? Ständig hatte er das Bild vor Augen, wie Julian leblos in der Grube lag. Sein erster Gedanke war, dass er tot sein musste, und daran dachte er auch jetzt. Nein, das durfte nicht sein!
Noah merkte nicht, dass er weinte. Er konnte die Straße noch nicht sehen, die er zu überqueren hatte. Auch das beleuchtete Firmenschild des Supermarktes tauchte immer noch nicht auf.
Dann hörte er hinter sich einen Wagen. Konnte das wahr sein? Noah konnte sein Glück kaum fassen und hielt an. Er stieg ab und ging winkend auf den Wagen zu, der viel zu schnell fuhr.
Dann gab es einen fürchterlichen Knall.
2.
„Unfall mit Todesfolge“, war die knappe Auskunft des vierundfünfzigjährigen Hans Hiebler, als er auflegte.
„Was hat die Mordkommission damit zu tun?“, maulte Viktoria Untermaier, die die Vertretung der erkrankten Tatjana Struck immer noch innehatte. Aber nicht mehr lange, und die Kollegin kam zurück, was Viktorias Zeit im bayerischen Mühldorf am Inn endlich beendete.
„Anweisung vom Chef. Offenbar zweifeln die Kollegen vor Ort an der Unfalltheorie, die Spurensicherung ist unterwegs“, fügte Hans an, dem der Grund des Einsatzes gleichgültig war. Das war allemal besser als diese stumpfsinnige Büroarbeit, zu der sie der Chef verdonnert hatte. Das Wetter war viel zu schön, um die Zeit im Büro zu verbringen.
Der zweiundfünfzigjährige Leo Schwartz sprang sofort auf. Er dachte ähnlich wie Hans, dem er sich sofort anschloss, um nicht mit Viktoria fahren zu müssen. Noch immer mied er so gut es ging den direkten Kontakt mit ihr, auch wenn er sich bemühte, höflich und freundlich zu ihr zu sein. Viktoria und er waren bis zu ihrem Weggang nach Berlin, wo sie einen vermeintlich besseren Job angetreten hatte, ein Paar gewesen. Dann war sie auf einmal wieder aufgetaucht, um die Vertretung der Kollegin Struck zu übernehmen, was ihm überhaupt nicht schmeckte. Leo hatte lange gebraucht, um über sie hinwegzukommen – und dann stand sie plötzlich wieder vor ihm. Ja, sie hatten sich auch auf Anweisung des Chefs und der der Kollegen zusammengerauft, was Viktoria sehr viel besser umsetzen konnte als er. Zum Glück dauerte es nicht mehr lange und Tatjana Struck war wieder einsatzbereit.
„Na gut, dann fahren wir“, maulte Viktoria immer noch, der die Hitze der letzten Tage sehr zusetzte. Sie war für eine derart lange Vertretung klamottentechnisch nicht ausgerüstet, weshalb sie seit Wochen immer wieder dieselben T-Shirts trug, bei denen es sich nicht lohnte, dass sie sie bügelte, obwohl sie in ihrem Pensionszimmer diesbezüglich sehr gut ausgestattet war. In regelmäßigen Abständen hatte sie beantragt, die Vertretung abzubrechen und wieder nach Berlin gehen zu dürfen, aber das wurde nicht genehmigt. Sie wusste nicht, dass der Mühldorfer Polizeichef Rudolf Krohmer seine Finger im Spiel hatte und das verhinderte. Er hätte sich erneut um eine Vertretung kümmern müssen, was für die kurze Zeit sehr schwierig geworden wäre. Eine unzufriedene Vertretung war für Krohmer allemal besser als gar keine.
Dem zweiundvierzigjährigen Werner Grössert schien die Hitze nichts auszumachen. Er trug wie immer einen Anzug und eine farblich abgestimmte Krawatte; alles vom Feinsten. Werner sah eher aus wie ein Model als ein Kriminalbeamter. Viktoria rümpfte die Nase, denn optisch passten sie und Werner, zu dem sie in den Wagen stieg, überhaupt nicht zusammen.
„Warum schwitzt du nicht? Manchmal denke ich, du kommst von einem anderen Stern.“
„Keine Ahnung. Vielleicht die Gene“, lachte Werner, der sich um Witterungsverhältnisse noch nie Gedanken gemacht hatte. Er konnte das sowieso nicht beeinflussen, warum sollte er sich dann darüber aufregen oder auslassen?
Die Fahrt nach Burgkirchen ging an Teising, Altötting und Kastl vorbei. Alles Orte, die Viktoria bekannt waren. Nicht mehr lange, und sie war wieder zurück in Berlin, wo sie sich nicht willkommen fühlte. Die neuen Kollegen und Nachbarn waren höflich und freundlich – mehr aber auch nicht. Warum war sie nur so dumm gewesen und hatte ihre Heimat für einen Job aufgegeben? Je länger sie hier war, desto wohler fühlte sie sich, was auch an dem freundlicheren Umgang mit Leo lag, mit dem sie sich immer besser verstand, auch wenn sie seine vorsichtige Art spürte. Trotzdem wollte sie weg, je eher desto besser. Sie befürchtete, sich zu sehr an die alte Heimat zu gewöhnen.
Die Kriminalbeamten sahen den Tatort schon von Weitem. Nicht nur das große Polizeiaufgebot war auffällig, sondern auch die riesige Menschentraube, die sich darum gebildet hatte. Die Fahrzeuge der Neugierigen parkten links und rechts am Fahrbahnrad, was nicht erlaubt war. Hans bahnte sich den Weg durch die Menschenmenge, die darüber nicht erfreut war. Niemand wollte seinen Platz räumen. Endlich konnte Hans seinen Wagen abstellen, was von vielen meckernd kommentiert wurde, denn dadurch verloren einige die gute Sichtposition.
Werner fand keinen Parkplatz.
„Lass mich das machen“, sagte Viktoria und stieg aus. Sie ging auf einen Wagen zu, der sich eben mit Mühe in eine enge Lücke gequetscht hatte.
„Sie wissen, dass Sie hier nicht parken dürfen?“
„Das geht dich einen Scheißdreck an“, raunte der Fahrer sie an, der sich aufgrund seines hohen Alters kaum auf den Beinen halten konnte.
Viktoria stellte sich ihm in den Weg und zückte ihren Dienstausweis. Der Mann blieb erschrocken stehen.
„Kriminalpolizei?“
„Fahren Sie freiwillig weg oder wollen Sie das volle Programm?“
Der Mann drehte sich um und setzte sich in seinen Wagen. Nachdem er umständlich ausgeparkt hatte, fuhr er weg.
„Die Lücke ist frei“, sagte sie zu Werner, der amüsiert zugesehen und zugehört hatte. „Ich gehe zum Tatort. Sei so gut und kümmere du dich um das Chaos hier.“
Werner rief zwei Uniformierte zu sich.
„Die Fahrzeuge müssen weg. Sie beide werden mich dabei unterstützen.“
„Ist das Ihr Ernst? Was glauben Sie, was dann los ist? Die Leute interessieren sich für das, was passiert ist, das kann man doch verstehen. Vor allem, weil hier sonst quasi nie etwas los ist. Ich weiß, wovon ich spreche, ich wohne selbst in Burgkirchen.“
„Ich habe kein Verständnis für Gaffer, die sich am Unglück anderer erfreuen und unsere Arbeit erschweren. Sie machen die Fahrer dieser Fahrzeuge ausfindig und fordern sie auf, umgehend wegzufahren.“
„Und wenn die sich weigern?“
„Dann rufen Sie den Abschleppwagen.“
Werner ging zu den Gaffern.
„Was für ein arroganter Arsch“, sagte der Polizist zu seinem Kollegen.
„Das habe ich gehört“, rief Werner, ohne sich umzudrehen.
Friedrich Fuchs, Leiter der Spurensicherung, war vor den Kriminalbeamten eingetroffen. Er gab am Tatort den Ton an und kümmerte sich persönlich darum, dass das Absperrband korrekt und vor allem weit genug angebracht wurde. Dabei ging es nicht nur um den Toten und das Mofa, sondern auch um den Feldweg, der jetzt nicht mehr betreten werden durfte. Die Schaulustigen, die von Fuchs, seinen Mitarbeitern und uniformierten Polizisten zurückgedrängt wurden, mussten von den Feldern aus rechts und links des Feldwegs zusehen. Pöbelnde Gaffer wies Fuchs harsch zurecht, seine Mitarbeiter machten es ihm gleich. Es dauerte nicht lange, und alle hatten einen Heidenrespekt vor der Spurensicherung, die in ihren Schutzanzügen beeindruckend aussahen. Fuchs kümmerte sich darum, dass Tücher um die Leiche gehängt wurden, womit dem Toten ein Mindestmaß an Respekt entgegengebracht werden konnte. Das wurde zwar mit Murren von den Umstehenden quittiert, aber man hatte im Grunde genommen Verständnis dafür.
Fuchs und seine Mitarbeiter konnten sich endlich an die Arbeit machen.
Die Kriminalbeamten waren zwar später angekommen, aber für Fuchs waren sie trotzdem zu früh vor Ort. Er brauchte Ruhe bei seiner Arbeit und wie so oft gab er erst Informationen raus, wenn er dazu bereit war. Und das konnte dauern.
Hans und Leo befragten derweil die Schaulustigen, von denen niemand etwas gehört oder gesehen hatte. Dem Einzelnen wäre es vielleicht peinlich gewesen, zugeben zu müssen, dass er hier nur der Neugier wegen stand. Aber in der Gruppe war jeder stark, da es jedem gleich ging.
Viktoria befragte den Mann, der den Toten gefunden hatte. Karl Eberhardt war immer noch käsebleich. Der fünfundsechzigjährige Rentner streichelte seinen Hund, der fortwährend an der Leine zerrte und weitergehen wollte. Der braune Labrador war noch recht jung. Er verstand nicht, warum sein Herrchen seit nunmehr einer Stunde nicht weiterging, wie er es sonst immer tat.
„Sie haben den Toten gefunden?“
„Eigentlich hat mein Bertl die Leiche gefunden, ich habe lediglich die Polizei informiert. Wer rechnet denn bei einem harmlosen Spaziergang mit einer Leiche? Ich hätte gerne darauf verzichtet, das können Sie mir glauben. Ich wollte einfach nur mit meinem Hund spazieren gehen, mehr nicht. Da vorn lass ich ihn immer von der Leine. Er tobt über Wiesen und Felder. Das mag der Bauer nicht, aber das ist mir egal.“
„Sie kennen den Landwirt?“
„Ja. Sein Name ist Hofberger, Michael Hofberger. Der Mann mag keine Hunde und vertreibt alle, aber bei mir beißt er auf Granit. Seine Drohungen und Beschimpfungen sind mir völlig egal. Die Gassi-Runden über die Felder und Wiesen sind herrlich. Hier kann mein Bertl herumtoben, so viel er will. Meinem Vierbeiner möchte ich die Freiheit geben, ohne Leine herumzutoben und die Welt zu erkunden, was hier geradezu ideal ist. Der Bauer konnte mit seiner schroffen Art viele erschrecken und hat sie vertrieben, mein Bertl und ich sind quasi allein unterwegs.“
Viktoria konnte den Mann verstehen, auch wenn sie es nicht gutheißen durfte. Das hier war offensichtlich Privatgrund, Spaziergänger und vor allem Hundebesitzer mussten sich an die Anweisungen des Eigentümers halten. Aber deshalb war sie nicht hier.
„Ihr Hund hat die Leiche im Maisfeld gefunden. Wie muss ich mir das genau vorstellen?“
„Der Bertl hat gebellt wie verrückt. Ich dachte an einen Hasen oder vielleicht sogar an ein Rehkitz. Ich habe ihn gerufen, aber er kam nicht. Also bin ich hinterher. Dann sah ich die Leiche. Ich habe gleich gesehen, dass der tot ist. Der Anblick war schrecklich, den werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen.“
„Haben Sie etwas angefasst?“
„Nein, das habe ich dem Polizisten bereits gesagt. Ich rief umgehend die 110 an und seitdem bin ich hier. Kann ich bitte gehen? Sie sehen ja, dass mein Bertl nicht der Geduldigste ist. Dafür, dass wir schon so lange hier sind, hält er sich wirklich prima. Nicht wahr, Bertl? Du bist ein ganz ein Braver!“
„Wir haben Ihre Personalien?“
„Selbstverständlich.“
„Dann dürfen Sie gehen. Vielen Dank.“
Viktoria hob das Absperrband und schlüpfte darunter durch. Sie sah sich um, was von Fuchs beobachtet und mit einem strafenden Blick quittiert wurde. Das war Viktoria gleichgültig. Sie besah sich alles sehr genau. Der Kollege, der die Kriminalpolizei informiert hatte, hatte richtig gehandelt. Auf dem Feldweg sah man deutlich Spuren eines Unfalls. Aber das Opfer und das Mofa passte nicht dazu, dafür lag beides zu weit entfernt. Außerdem konnte Viktoria die Schleifspuren mit bloßem Auge erkennen.
„Was haben Sie, Kollege Fuchs?“
„Ich bin noch nicht so weit! Warum müssen Sie mich immer bedrängen?“
„Weil ich sonst noch Stunden warten muss, und darauf habe ich keine Lust. Raus mit der Sprache: Was haben Sie?“ Viktoria und Fuchs konnten sich noch nie richtig leiden, dafür waren die beiden zu unterschiedlich.
Fuchs war sauer. Die anderen Kriminalbeamten konnte er abwimmeln, aber mit der aktuellen Leiterin der Mordkommission durfte er nicht so umgehen. Auch wenn er die Kollegin Untermaier nicht besonders mochte, was auch auf die Kollegin Struck zutraf, die ähnlich penetrant war, musste er Auskunft geben.
„Zunächst weise ich darauf hin, dass meine Angaben nur vorläufig sein können, da ich noch nicht die Möglichkeit hatte, genauere Untersuchungen vorzunehmen, dafür war die Zeit zu kurz.“
„Das ist mir klar. Was ist hier passiert, Fuchs? So, wie ich das sehe, wurde das Opfer angefahren. Danach wurden Opfer und Mofa in das Maisfeld geschleift.“
„Richtig. Meines Erachtens muss das Opfer frontal angefahren worden sein. Die Geschwindigkeit des Unfallfahrzeuges dürfte nicht unerheblich gewesen sein. Bremsspuren sind quasi kaum vorhanden. Für mich sieht das nach Absicht aus.“
„Sie meinen, er wurde von vorn angefahren? Er fuhr nicht mit dem Mofa?“
„Ja. Das Opfer muss so gestanden haben.“ Fuchs demonstrierte auf dem Feldweg stehend, wie der junge Mann angefahren worden sein musste. Unter den Schaulustigen wurde es mucksmäuschenstill. Endlich geschah etwas, das niemand verpassen wollte.
„Sind Sie sicher, Kollege Fuchs? Wenn ich mir das Mofa so ansehe, habe ich meine Zweifel“, bemerkte Hans, der mit Leo und Werner hinzugestoßen war.
„Das Mofa sieht zwar schlimm aus, aber ich gehe nicht davon aus, dass es in den vermeintlichen Unfall involviert war. Sehen Sie, dass der Mofa-Ständer betätigt wurde?“
„Tatsächlich. Der Mofa-Ständer ist unten. Todeszeit?“
„Dafür muss das Opfer erst in die Pathologie.“
„Nur eine vage Vermutung, mehr brauche ich nicht. Ist er heute Morgen gestorben, gestern Abend oder um Mitternacht?“
„Wenn ich die warme Nacht und die Umstände des Fundortes berücksichtige, würde ich eine vorläufige Todeszeit um circa zwei oder drei Uhr ansetzen. Aber das ist nur eine erste Einschätzung und muss bestätigt werden. Verlangen Sie jetzt bitte keine näheren Details, die zum Tod geführt haben, mehr werde ich dazu nicht sagen.“
Leo machte eifrig Notizen.
„Hatte das Opfer Papiere bei sich?“
„Leider nicht.“
„Das Kennzeichen des Mofas?“
„Negativ. Das Schutzblech sieht nicht danach aus, als ob in letzter Zeit ein Kennzeichen angebracht gewesen wäre.“
Leo sah sich das Opfer zum ersten Mal an.
„So ein junger Mensch. Ich schätze das Alter auf etwa zwanzig.“
„Ja, so würde ich ihn auch einschätzen. Die genauere Beschreibung ersehen Sie selbst, dafür brauchen Sie mich nicht. Und wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden? Es gibt noch viel zu tun.“
Die Fahrzeuge der Schaulustigen fuhren eines nach dem anderen davon. Niemand wollte, dass sein Wagen abgeschleppt werde, das ging dann doch zu weit. Außerdem ließ das Interesse nach, nachdem man die Leiche durch die vielen Tücher nicht mehr sehen konnte und auch die Kriminalpolizei Anstalten machte, wieder zu fahren. Es dauerte nicht lange, und es standen nur noch Wenige hinter dem Absperrband.
„Wir geben ein Foto des Toten und eine Beschreibung in die Presse. Parallel müssen wir die Vermisstenmeldungen durchgehen“, sagte Viktoria, der die ganze Sache nicht gefiel. Warum wurde das Opfer frontal angefahren? War es wirklich Absicht, wie Fuchs vermutete? Es war mitten in der Nacht, vielleicht hatte der Fahrer den jungen Mann nicht gesehen. Aber warum hatte das Mofa kein Kennzeichen?
Ein Mann beobachtete alles mit einem Fernglas aus sicherer Entfernung. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Leiche und das Mofa so schnell gefunden wurden. Scheiß Köter!
3.
Am frühen Nachmittag meldeten sich die Eltern des Opfers, die von Schülern auf die Suche der Kriminalpolizei, die auch Online erschien und sich sehr schnell verbreitete, aufmerksam gemacht wurden. Das Ehepaar Geiger war völlig aufgebracht und stellte abwechselnd eine Frage nach der anderen.
„Ist das Ihr Sohn?“ Leo legte mehrere Fotos auf den Tisch, die Fuchs persönlich gemacht hatte.
„Ja, das ist unser Noah. Wer hat ihn getötet? Haben Sie den Mörder?“ Bettina Geiger war außer sich. Sie zitterte und kratzte sich ständig am Unterarm.
„Zunächst gehen wir von einem Unfall aus“, sagte Leo, auch wenn das vielleicht nicht der Wahrheit entsprach.
„Wer ist der Unfallverursacher? Wer hat ihn überfahren? Suchen Sie den, der meinen Jungen auf dem Gewissen hat. Hat er leiden müssen? Wo ist er? Kann ich ihn sehen?“
„Wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen. Ihr Sohn wird gerade obduziert.“
„Das dürfen Sie nicht! Alexander, sag der Polizei, dass sie nicht an unserem Sohn herumschnippeln sollen!“
„Die Polizei macht nur ihre Arbeit, bitte beruhige dich.“
„Ich bin doch Noahs Mutter. Können Sie nicht verstehen, dass eine Obduktion für mich unerträglich ist?“
„Doch, das verstehe ich, aber eine Obduktion ist in diesem Falle Vorschrift. Darf ich Ihnen Fragen stellen? Sind Sie dazu in der Lage?“
„Entschuldigen Sie bitte. Selbstverständlich können Sie Ihre Fragen stellen.“
„Sie wohnen in Burghausen?“
„Ja.“
„Was wollte Ihr Sohn in Burgkirchen?“
„Das weiß ich nicht. Weißt du, was Noah dort wollte, Alexander?“
„Nein. Woher soll ich das wissen?“
„Ihnen ist nicht aufgefallen, dass Ihr Sohn nicht zuhause war?“
„Nein. Noah war oft nachts unterwegs. Er ist neunzehn und somit erwachsen. Wir haben unserem Sohn immer alle Freiheiten ermöglicht.“
„Sie haben ihn auch heute Morgen nicht vermisst?“
„Nein!“ Alexander Geiger schien genervt. „Ich musste früh in die Firma und meine Frau hatte einen Arzttermin. Wir haben unseren Sohn heute Morgen nicht gesehen. Das ist nicht ungewöhnlich, das kommt vor.“
„Der Unfall geschah etwa gegen zwei Uhr nachts in einer gottverlassenen Gegend. Was denken Sie, wollte Ihr Sohn dort? Was hatte er vor? War er allein unterwegs?“
„Das weiß ich nicht! Noah sagte gestern Abend, dass er sich mit Julian treffen wollte.“
„Julian?“
„Julian Brechtinger, er wohnt ebenfalls in Burghausen, in der Robert-Koch-Straße. Er und unser Sohn sind seit vielen Jahren die besten Freunde. Die beiden gehen in dieselbe Klasse und verbringen die Freizeit gemeinsam“, erklärte Frau Geiger.
Hans machte Notizen. Von den Eltern erfuhren sie über den nächtlichen Ausflug ihres Sohnes nichts, vielleicht konnte Julian mehr dazu sagen. Hans ging nach draußen und sprach mit Viktoria, die sofort bei der Familie Brechtinger in Burghausen anrief. Dort meldete sich niemand. Werner rief in der Schule der beiden an und bekam die Auskunft, dass auch Julian Brechtinger heute nicht zum Unterricht erschienen war. Als Viktoria das hörte, wurde ihr schlecht.
„Jetzt mal‘ den Teufel nicht an die Wand“, sagte Werner, der immer positiv dachte und selten mit dem Schlimmsten rechnete.
Derweil ging die zähe Befragung mit dem Ehepaar Geiger weiter.
„Was ist mit dem Mofa? Warum hat es kein Versicherungskennzeichen?“
„Unser Sohn hatte kein Mofa, wie kommen Sie auf diese Idee? Hast du je davon gehört, Alexander?“
„Nein.“
Leo schob ihnen Fotos zu, auf denen das Mofa deutlich zu erkennen war.
„Dieses alte Ding soll unserem Sohn gehört haben? Niemals! Was sollte er damit? Wir haben Noah zu seinem achtzehnten Geburtstag ein Auto geschenkt, damit fährt er täglich. Was soll er mit einem uralten, demolierten Mofa? Damit fahren doch nur Proleten, die sich einen Wagen nicht leisten können“, sagte Alexander Geiger eine Spur zu überheblich.
Die Unterhaltung mit dem Ehepaar Geiger brachte nicht viel. Nach ihrer Aussage war ihr Sohn ein fleißiger und überall beliebter junger Mann, der keine Feinde hatte und mit dem es niemals Ärger gab.
Die Kriminalbeamten sahen dem Ehepaar Geiger hinterher, wie sie davonfuhren.
„Es ist immer besonders schlimm, wenn Eltern Kinder verlieren. Ich möchte nicht in deren Haut stecken.“
Leo und Hans übernahmen die Befragung von Julian Brechtingers Eltern. Die beiden fuhren zuerst zu der Firma des Vaters, Markus Brechtinger, bei dem sie sich telefonisch angemeldet hatten. Brechtinger leitete ein mittelständisches Baugeschäft mit zwölf Angestellten, zu denen seine Frau nicht zählte. Sie hatte sich vor einigen Jahren mit einem Maklerbüro selbständig gemacht, das – wie das Baugeschäft ihres Mannes – sehr gut lief.
Leo und Hans waren überrascht, dass Roswitha Brechtinger im Büro ihres Mannes anwesend war. Sie stand mit verschränkten Armen direkt neben ihrem Mann. Auch gut, dann konnten sie sie gemeinsam befragen. Das Ehepaar Brechtinger schien sehr gespannt darauf, was die Kriminalpolizei von ihnen wollte. Die schlechte Stimmung konnte man spüren. Es schien, als hätten sich die beiden gerade gestritten.
„Wir suchen Ihren Sohn Julian“, begann Leo vorsichtig.
„Warum? Was wollen Sie von ihm“, sagte Roswitha Brechtinger viel zu laut. Die Frau war auf Krawall gebürstet.
„Was hat er angestellt?“, lachte Markus Brechtinger. „Ich hoffe nichts Schlimmes. Soll ich unseren Anwalt anrufen?“
„Wo finden wir Ihren Sohn?“
„Er war heute Nacht nicht zuhause, was ab und zu vorkommt. Julian wird in drei Wochen neunzehn. In dem Alter ist es nicht ungewöhnlich, dass man seine eigenen Wege geht. Julian ist um diese Zeit längst in der Schule. Worum geht es? Warum sind Sie hier? Was werfen Sie unserem Sohn vor?“ Roswitha Brechtingers Ton wurde schärfer.
„Sie wissen, was mit Noah Geiger geschehen ist?“
„Mit Noah? Was ist mit ihm?“
„Er ist tot. Er wurde heute Nacht überfahren.“
„Noah ist tot?“, rief Frau Brechtinger und sah ihren Mann erschrocken an.
„Leider ja.“ Leo vermied es, von Mord zu sprechen.
Für einen kurzen Moment war es still.
„Wo ist mein Sohn? Was ist mit ihm?“, rief Frau Brechtinger. Nach dieser Schreckensnachricht machte sie sich große Sorgen.
„Bitte beruhige dich.“ Markus Brechtinger war aufgesprungen und nahm seine Frau in die Arme. Der riesige, korpulente Mann strahlte eine angenehme Ruhe aus, die sich jedoch nicht auf seine Frau übertrug. Sie stieß ihn rüde von sich.
„Julian und Noah sind schon seit vielen Jahre die besten Freunde. Noah war wie ein zweiter Sohn für uns, er ging bei uns ein und aus. Er war sogar in vielen Urlauben dabei“, erklärte Markus Brechtinger.
„Jetzt ist Noah tot“, wiederholte Frau Brechtinger. „Was für ein Wahnsinn!“
„Was ist mit dem Ehepaar Geiger? Sind Sie auch mit ihnen befreundet?“
„Früher schon“, sagte Frau Brechtinger und sah ihren Mann dabei an, der kaum spürbar den Kopf schüttelte.
„Und heute?“
„Heute nicht mehr.“
Leo und Hans spürten, dass das einen triftigen Grund haben musste, wollten aber nicht weiterbohren. Es ging hier um die Söhne und nicht um die Differenzen der Eltern.
„Ihr Sohn war heute nicht in der Schule“, sagte Leo vorsichtig.
Das Ehepaar Brechtinger war zuerst sprachlos, dann wurden beide panisch. Von Ruhe war nichts mehr zu spüren. Beide riefen mehrere Personen an und fragten nach ihrem Sohn, leider ohne Ergebnis. Roswitha Brechtinger weinte und war nicht zu beruhigen.
„Bitte suchen Sie nach meinem Sohn. Wir werden unsererseits alle befragen, die Kontakt zu unserem Sohn haben“, rief Markus Brechtinger aufgeregt und wollte sich sofort an die Arbeit machen.
„Ich habe nur noch eine Frage“, hielt ihn Leo zurück. „Auf dem Firmenschild steht Brechtinger & Müller. Ihnen gehört die Firma nicht allein?“
„Nein. Jochen Müller ist schon lange bei uns. Er hat sich vor vier Jahren finanziell in die Firma eingebracht. Ich selbst habe ihn ausgebildet und bin froh, dass ich auf ihn zählen kann. Er vertritt mich, wenn ich im Urlaub oder krank bin. Darüber hinaus übernimmt er sehr viele Aufgaben, die ich mir nicht mehr zutraue. Nach dem zweiten Bypass habe ich eingesehen, dass ich kürzertreten muss. Außerdem ist es mit Ende Fünfzig an der Zeit, etwas ruhiger zu werden. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“
„Wo finden wir Ihren Kompagnon?“
„Auf der Baustelle in Neuötting, Bahnhofstraße. Ich weiß zwar nicht, wie er Ihnen behilflich sein kann, aber bitte, reden Sie mit ihm. War es das jetzt? Ich möchte nach meinem Sohn suchen. Außerdem muss ich mich um meine Frau kümmern. Sie sehen ja, in welchem Zustand sie ist.“
Die Fahrt ging direkt nach Neuötting. Leo und Hans brauchten nicht lange nach Jochen Müller suchen. Mehrere Fahrzeuge mit dem Firmenlogo parkten dicht an dicht. Jochen Müller stand vor dem Haus, an dem gerade gearbeitet wurde und diskutierte gestikulierend mit einem Mann, der sehr viel älter war als er. Leo und Hans waren bezüglich des Alters Jochen Müllers überrascht. Dieser war gerade mal dreißig Jahre alt. Die Kriminalbeamten wiesen sich aus und erklärten die Situation.
„Noah ist tot und Julian ist verschwunden? Um Gottes Willen! Was ist passiert?“
„Deshalb sind wir hier. Vielleicht haben Sie eine Ahnung, wo sich Julian aufhalten könnte.“
„Woher soll ich das wissen? Ja, ich kenne Julian schon sehr lange, so wie auch Noah, aber ich weiß nie, wo sie sich herumtreiben.“
„Wie ist Ihr Verhältnis zu der Familie Brechtinger?“
„Nicht nur gut, sondern sehr gut. Ich bin Markus‘ Geschäftspartner und ein enger Freund der Familie, der ich sehr viel zu verdanken habe. Früher hatte ich keine Lust auf Schule und Ausbildung. Als ich bei Markus anfing, glaubte ich nicht daran, dass ich dort bleiben würde. Arbeit war nichts für mich. Aber Markus hatte viel Geduld mit mir und hat mich unter seine Fittiche genommen. Er war ein sehr guter Ausbilder und dazu wie ein Vater für mich; mehr, als es mein eigener jemals war. Sie sehen ja, was aus mir geworden ist“, fügte er nicht ohne Stolz hinzu.
„Sie haben sich in die Firma eingekauft?“
„Ja. Die Erbschaft meiner Großmutter und meine Ersparnisse haben zum Glück ausgereicht. Markus hat mich dazu ermutigt. Ich vermute, dass er mit seinem Sohn nicht als Nachfolger rechnet, dessen Interessen gehören nicht der Baubranche. Nach dem Abitur soll er studieren, das braucht er in unserem Gewerbe nicht zwingend. Verstehen Sie mich nicht falsch, wenn ich sage, dass Julian nicht für die Baubranche geschaffen ist. Er ist keiner von denen, die gerne mit den Händen arbeiten. Er verkriecht sich lieber hinter seinem Computer und seinen Büchern.“ Jochen Müller grinste.
Leo mochte den Mann nicht. Er war ihm zu glatt und einen Tick zu überheblich.
„Falls Ihnen etwas einfällt, rufen Sie uns bitte an.“
Leo und Hans saßen im Wagen und atmeten tief durch.
„Was ist heute Nacht geschehen?“
„Das müssen wir herausfinden.“
„Womit fangen wir an?“
„Beide Eltern sagten aus, dass die Jungs immer zusammen waren. Wir müssen die Gegend um den Unfallort absuchen.“
„Du denkst, dass Julian dort irgendwo ist?“
„Keine Ahnung. Aber ich möchte mir später nicht den Vorwurf machen, nicht nach ihm gesucht zu haben.“
„Willst du heute noch nach ihm suchen?“
„Auf jeden Fall.“
4.
Bettina Geiger saß weinend auf der Bank vor dem Jägerhäusl im Kastler Forst. Immer wieder stand sie auf und blickte sich um. Endlich! Dort hinten kam er! Sie lief auf ihn zu und die beiden fielen sich in die Arme; dabei schluchzte Bettina und weinte hemmungslos.
Markus Brechtinger versuchte, sie zu trösten. Er sprach mit ruhiger Stimme, auch wenn ihm klar war, dass sie ihm nicht zuhörte. Er wusste, dass kein Wort der Welt den Schmerz dieser Frau lindern konnte.
Langsam beruhigte sich Bettina. Das war auch gut so, denn ein Radfahrer näherte sich und sie durften nicht in dieser Vertrautheit gesehen werden. Markus und Bettina hatten seit zwei Jahren eine Affäre, die vor zehn Monaten durch einen dummen Zufall aufgedeckt wurde. Die Ehepartner waren enttäuscht und wütend. Roswitha Brechtinger war sogar kurz davor, sich scheiden zu lassen und machte ihrem Mann vor den Augen ihres Sohnes eine heftige Szene. Sie gingen sogar zur Paartherapie, was für Markus reine Zeitverschwendung war, denn er liebte seine Frau schon lange nicht mehr und daran würde sich auch nichts mehr ändern. Er blieb nur wegen des gemeinsamen Sohnes, nur ihm zuliebe hielt er die ständigen Streitereien und Demütigungen aus, die lange vor Bekanntwerden der Affäre an der Tagesordnung waren. Markus Brechtinger hatte mit Bettina vereinbart, mit einem gemeinsamen Leben zu warten, bis beide Söhne mit der Schule fertig waren. Nur noch ein Jahr, und dann waren sie frei. Für Alexander Geiger war eine Scheidung nie eine Option gewesen, denn die würde sich eventuell negativ auf die Geschäfte auswirken, die in seinem Leben eine zentrale Rolle spielten. Trotzdem hatte ihn das Verhältnis zwischen seiner Frau und seinem besten Freund bis ins Mark getroffen. Seitdem gingen sich die Paare aus dem Weg.
Bettina Geiger und Markus Brechtinger sahen sich nach Bekanntwerden ihrer Affäre drei Monate nicht, bis es Markus nicht mehr aushielt und seine Geliebte vor dem Garchinger Schuhgeschäft abfing. Er konnte und wollte nicht ohne sie sein, zumal seine Frau noch schlimmer geworden war. Die dominante und bestimmende Art wurde durch Boshaftigkeiten und tägliche Sticheleien fast unerträglich. Markus schob abends oft Arbeit vor, um so spät wie möglich nach Hause gehen zu müssen, wo ihn seine fiese Frau erwartete und ihn wie so oft mit Demütigungen und Streitigkeiten drangsalierte. Am Morgen ging er sehr früh außer Haus und atmete tief durch, wenn er im Wagen saß und er endlich seine Ruhe hatte. Es kam nicht selten vor, dass Roswitha ihn kontrollierte, was ihm zusätzlich auf die Nerven ging.
Bettina wurde von dieser Behandlung zuhause verschont, allerdings war Alexander mit seiner Ignoranz und Schweigsamkeit auch nicht viel besser. Im Hause Geiger herrschte Totenstille, was ihr sehr aufs Gemüt schlug. War sie nicht selbst schuld daran?
Seit Markus sie angesprochen hatte, trafen sie sich alle zwei Wochen am Jägerhäusl im Kastler Forst, immer zur selben Uhrzeit. Ihnen blieb nie viel Zeit, außerdem mussten sie vorsichtig sein. Es gab keine Telefonate zwischen ihnen und keine Geschenke. Nichts durfte sie verraten. Die wenigen Augenblicke genossen sie und schöpften daraus die Kraft, die nächsten beiden Wochen zu überstehen.
„Ich war mir nicht sicher, ob du kommst, mein Engel. Wie geht es dir?“
„Wie soll es mir gehen? Mein Junge ist tot!“ Wieder weinte sie und schmiegte sich dabei eng an ihren Geliebten, den sie am liebsten nie wieder losgelassen hätte. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen.
„Noahs Tod tut mir sehr leid. Ich mochte den Jungen, er war wie ein zweiter Sohn für mich.“
„Das weiß ich. Gibt es schon eine Spur von Julian?“
Markus schüttelte den Kopf. Jetzt kämpfte er mit den Tränen, was Bettina bemerkte. Sie küsste ihn.
„Lass es raus, Markus. Du kannst nicht immer stark sein.“
Nun weinten sie beide und hielten sich aneinander fest.
„Was passiert mit uns?“
„Ich weiß es nicht.“
Die Zeit ging wieder viel zu schnell vorbei. Sie hätten sich noch so viel zu sagen, aber dazu reichte die Zeit einfach nicht. Sie gestatteten sich nur eine halbe Stunde, die musste reichen.
Markus verabschiedete sich und sah Bettina hinterher. Er wollte ihr für die Beerdigung tröstende Worte mit auf den Weg geben, die er sich sorgsam zurecht gelegt hatte. Jetzt war es dafür zu spät, sie war weg.
Markus setzte sich in seinen Wagen. Tief im Inneren rechnete er bereits mit dem Tod seines Sohnes. Würde er je damit zurechtkommen, wenn sich das bestätigte? Julian war sein ganzer Stolz, er liebte ihn sehr. Er hatte ihn oft gegen seine zänkische Mutter in Schutz genommen, wenn sie wieder einen ihrer Anfälle hatte. Dafür hatte er selbst von ihr alles abbekommen, aber das war ihm immer gleichgültig gewesen. Julian! Was war mit ihm geschehen? Markus weinte und betete, auch wenn er kein gläubiger Mensch war. Er betete nicht nur, sondern flehte Gott an. Ein Jogger lief an seinem Wagen vorbei, weshalb er mit dem Gebet aufhörte und sich langsam wieder beruhigte. Markus nahm sich fest vor, einiges in seinem Leben zu ändern, wenn sein Sohn wieder gesund auftauchen sollte. Ja, das würde er machen. Natürlich würde er sich sofort von seiner Frau trennen, dafür war es schon längst höchste Zeit. Er würde seine Firmenanteile verkaufen und sich an einem schönen, ruhigen Platz ein neues Leben aufbauen. Noch war er nicht zu alt dafür, noch war Zeit genug. Aber das alles würde er nur machen, wenn er Julian wieder in seine Arme schließen konnte.
Mit einem Kloß im Hals fuhr er zur Firma. Dort stand der Wagen seiner Frau, die wie immer direkt vor der Eingangstür parkte, was er auf den Tod nicht ausstehen konnte. Das wusste Roswitha und deshalb ließ sie sich davon auch nicht abbringen.
„Wo kommst du her?“, begrüßte Roswitha Brechtinger ihren Mann, der nicht darauf antwortete. Es war egal, was er sagte. So, wie seine Frau gerade drauf war, gab es sowieso Streit, deshalb sparte er sich die Energie. „Hast du mich nicht verstanden? Ich habe gefragt, wo du herkommst! Warst du wieder bei der Hure Bettina? Oder bei einer anderen? Fängt das Theater wieder von vorn an?“
Roswitha stand direkt vor ihm. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Fratze gewandelt, die er einfach nur widerlich fand. Ja, er hatte eine Affäre und er war sicher nicht stolz darauf. Warum konnte seine Frau nicht ein wenig wie Bettina sein? Sie war herzlich, verständnisvoll und leise. Alles Eigenschaften, die seiner Frau völlig fremd waren. Sie schimpfte und zeterte, was natürlich die Angestellten mitbekamen, denn Roswitha schrie immer lauter. Markus schloss die Tür, was vermutlich nicht viel brachte.
„Was kann ich für dich tun?“, fragte er, statt auf ihre Vorwürfe zu antworten, die er über sich ergehen lassen musste.
„Erinnerst du dich daran, dass wir einen Sohn haben, der verschwunden ist? Ich sorge mich um unseren Sohn, während du einfach zur Tagesordnung übergehst und fröhliche Ausflüge unternimmst. Was bist du nur für ein Mensch!“
„Was soll ich deiner Meinung nach tun? Ich habe nach Julian gesucht. Ich habe alle möglichen Leute angerufen und habe persönlich mit vielen gesprochen. Ich bin deiner Bitte nachgekommen und habe einen Privatdetektiv engagiert, obwohl ich nichts davon halte. Was soll ich noch tun? Zuhause sitzen und warten? Das kann ich nicht. Ich muss mich ablenken und das kann ich am besten mit meiner Arbeit.“
„Natürlich geht deine Arbeit vor. Die war dir schon immer wichtiger als deine Familie.“ Es folgte ein weiterer Regen von Vorwürfen, die Markus wieder kommentarlos über sich ergehen ließ. Roswitha setzte sich, sie war erschöpft. Sie hatte Probleme damit, sich zu konzentrieren, daher konnte sie nicht arbeiten. Sie malte sich wegen ihres Sohnes die schlimmsten Szenen aus und wurde fast verrückt. Aber das sagte sie ihrem Mann nicht. Sie hatte von klein auf gelernt, stark zu sein und keine Schwäche zuzugeben.
„Warst du bei deiner Hure?“, fragte sie jetzt leise und sah ihren Mann an.
„Nein, das war ich nicht“, log er. Ja, er hätte die Wahrheit zugeben können. Das war eine dieser verpassten Gelegenheiten, seiner Frau endlich reinen Wein einzuschenken. Aber dafür war er zu feige. Außerdem war das nicht der richtige Zeitpunkt. Julian stand an erster Stelle, alles andere konnte später geklärt werden.
„Die Polizei hat Julian immer noch nicht gefunden. Wo könnte er sein?“
„Das weiß ich nicht. Ich bin mir sicher, dass er wohlbehalten wieder auftaucht.“
„Alles spricht dagegen. Wie kannst du dir dabei sicher sein?“
„Weil ich nicht zulassen will, an das Schlimmste zu denken. Julian kommt gesund wieder.“ Das sagte Markus nicht nur zu seiner Frau, sondern vor allem zu sich selbst. Er musste fest daran glauben, dass Julian noch lebte, alles andere wäre Wahnsinn.
5.
Burgkirchen bekam an diesem Tag eine weitere Attraktion geboten, nachdem die Spurensicherung erst vor einer halben Stunde abgezogen war und auch die letzten Schaulustigen gegangen waren.
Unzählige Einsatzfahrzeuge fuhren kurz vor fünfzehn Uhr fast in einer Kolonne durch den kleinen Ort, der wunderschön zwischen Altötting und Burghausen gelegen war. Auf dem fraglichen Feldweg parkten die vielen Fahrzeuge. Eine Hundestaffel war angefordert worden, die sich ebenfalls in die Kolonne eingereiht hatte. Das Ereignis verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Jeder Neugierige wurde am Beginn des Feldweges abgefangen, weshalb sich an der Straße und auf den Wiesen und Feldern rasch erneut eine riesige Menschentraube bildete. Auch die verkehrswidrig parkenden Fahrzeuge behinderten mehr und mehr den Verkehr, was zwei Polizisten versuchten, in den Griff zu bekommen.
Das Absperrband war die Grenze für Schaulustige, hier ging es nicht weiter. Damit keiner diese Grenze überschritt, waren vier sehr große, kräftige und schwer bewaffnete Polizisten abgestellt worden, worum Viktoria gebeten hatte. Alle, sowohl Schaulustige, als auch die Kollegen, fanden das völlig übertrieben, aber das war Viktoria völlig egal. Die vier Polizisten machten einen sehr guten Eindruck auf alle, niemand wagte sich an ihnen vorbei – und das war es, was sie erreichen wollte. Die Suche musste ruhig und ohne Störung ablaufen, schließlich hatten sie dafür nicht viel Zeit.
Die Presse war ebenfalls vor Ort und machte unzählige Bilder, die mit der Zeit uninteressant wurden. Auch den Journalisten wurde der weitere Zutritt verwehrt, weshalb es keine neuen Fotomotive gab.
Werner und Viktoria trafen zuletzt ein. Sie mussten ihren Wagen auf dem Parkplatz des Supermarktes auf der anderen Seite der Straße parken und sich dann den Weg durch die Menschenmenge bahnen. Dabei kam Unmut auf, denn alle empfanden es als Frechheit, dass sich die beiden nach vorne drängelten. Erst, als Werner seinen Ausweis in die Luft hielt, machten einige Platz.
„Wo bleibt ihr denn?“, rief Hans und winkte den beiden zu.
„Auf die Online-Presseinfo gingen jede Menge Hinweise ein. Einigen sind wir sofort nachgegangen.“
„Und? Etwas Interessantes dabei?“
„Allerdings. Julian Brechtingers Wagen wurde gefunden, er stand auf dem Supermarktparkplatz dort hinten, wo wir auch parken mussten. Noah Geiger und Julian Brechtinger haben in Burghausen eine Garage angemietet, in der sie ihre Mofas untergestellt und auch repariert haben.“
„Davon wussten die Eltern nichts?“
„Ihr habt sie ja gehört. Die wären sicher nicht mit der Freizeitbeschäftigung ihrer Söhne einverstanden gewesen. Ein Hinweis eines Mitschülers war noch interessanter. Offenbar gingen die beiden Jungs nachts mit ihren Mofas auf Tour. Sie suchten sich Gelände aus, auf denen sie mit ihren Fahrzeugen herumheizen konnten.“
„Motocross für Arme?“
„So in etwa.“
Leo hatte den Ausführungen Viktorias interessiert zugehört. Allerdings drängte der Einsatzleiter des Suchtrupps darauf, endlich mit der Suche zu beginnen.
„Noch etwas?“
„Nein.“
„Dann lasst uns gehen.“ Leo gab dem Einsatzleiter ein Zeichen, dann konnte es endlich losgehen.
Der heutige Juli-Tag war gnadenlos. In den Nachrichten wurde angekündigt, dass dies einer der heißesten Tage werden würde, wobei die 35°-Grenze überschritten werden dürfte. Viktoria schwitzte wie verrückt in ihrem dunklen T-Shirt und den schwarzen Jeans, ebenso wie Leo. Auch heute trug er seine Cowboy-Stiefel, Jeans und ein dunkles T-Shirt mit dem Aufdruck einer Rockband, die wenigstens einige der älteren Schaulustigen zu kennen schienen, denn sie unterhielten sich nicht nur darüber, sondern sangen einige Songs an. Unter normalen Umständen hätte sich Leo darüber gefreut, aber heute galt seine Aufmerksamkeit ausschließlich der Suche nach dem verschwundenen Jungen und nach Spuren, die eventuell erklären konnten, was in der Nacht passiert war. Hans machte die Hitze nicht viel aus, er liebte sie geradezu. Er war ganz in Leinen gekleidet, was er im Sommer bevorzugt trug. Eine leichte, helle Hose, ein weißes Hemd, an dem die Knöpfe für Leos Begriffe viel zu weit geöffnet waren. Dazu trug er helle Slipper, die für einen Gang über Felder und Wiesen denkbar ungeeignet waren. Außerdem umgab ihn heute wieder ein betörender Herrenduft, der neu sein musste. Werner fiel mit seinem hellen Anzug und der farblich passenden Krawatte völlig aus dem Rahmen. Aufgrund seines Aussehens hielten ihn die meisten für den Chef der Mordkommission, was weder ihn, noch die Kollegen störte.
Der Suchtrupp kam nur sehr langsam voran. Sie gingen in einer breiten Kette, der eine weitere nachfolgte, wobei die Suchhunde vorausgingen und die Gruppe anführten. Die Kriminalbeamten bildeten den Schluss.
Nach einer halben Stunde wischte sich Leo den Schweiß von der Stirn und fluchte. Warum war es gerade heute so heiß?
„Beschwer dich nicht. Die Kollegen müssen Uniform tragen und maulen auch nicht rum. Reiß dich gefälligst zusammen“, lachte Hans, der mit der Hitze immer noch kein Problem hatte. Er schlenderte den Kollegen hinterher. Zum Glück hatte er eine Sonnenbrille eingesteckt, die ihn vor der Sonne und der Helligkeit schützte. Jetzt sah er aus wie ein Urlauber bei einem gemütlichen Spaziergang. Viktoria hatte ihm bereits einen strafenden Blick zugeworfen, denn dieses Aussehen kam in der Presse und damit bei der Bevölkerung sicher nicht gut an. Aber das war Hans gleichgültig, um solche Kleinigkeiten hatte er sich noch nie Gedanken gemacht.
Der Suchtrupp war jetzt fast zwei Stunden unterwegs, sie brauchten dringend eine Pause. Alle wurden mit Getränken und einer Brotzeit versorgt. Leo hielt diese Pause für völlig überflüssig. Ja, es war heiß und alle schwitzten. Aber es galt, den Jungen zu finden, der vielleicht hier irgendwo hilflos lag. Ungeduldig ging er auf und ab. Er lief zu der nächsten Anhöhe, da er Motorengeräusche vernahm. Er beobachtete einen Landwirt, der gerade dabei war, Gülle auf einem Feld zu verteilen. Der Acker sah frisch gepflügt aus und endete an einem kleinen Waldstück. Hans war Leo gefolgt und sah, was ihn beschäftigte.
„Der fährt Gülle aus“, sagte Leo verärgert.
„Odel heißt das in Bayern.“
„Es ist mir völlig egal, wie Gülle hier genannt wird.“
„Es ist kein Regen angesagt. Eigentlich ist es verboten, heute Odel auszubringen.“
„Ob das verboten ist, ist mir wurscht. Unsere Arbeit ist schon schwer genug, da brauchen wir den Gestank nicht auch noch.“ Leo ging los, er musste den Landwirt dazu bringen, mit seiner Arbeit aufzuhören. Hans bat zwei Uniformierte zu sich und erklärte, worum es ging. Jetzt blickten sie in die Richtung und sahnen den Bauern bei der Arbeit. Auch sie wurden wütend, denn an diesem Feld mussten sie später alle vorbei.
„Ich bin Nebenerwerbslandwirt und muss mich auch an Vorschriften halten“, sagte der eine Kollege, der ziemlich sauer war. „Es gibt immer wieder Deppen, die sich nicht daran halten und aus der Reihe tanzen.“
Nach zwanzig Minuten strengen Fußmarsches waren sie endlich bei dem Bauern angekommen, der keine Anstalten machte, seine Arbeit zu unterbrechen und auf das Winken der Polizisten nicht reagierte. Augenscheinlich war er schon lange mit diesem Feld beschäftigt, denn es war tatsächlich frisch umgeackert und wurde jetzt gedüngt.
„Macht’s, dass wegkimmts!“, rief der Bauer und drückte aufs Gas, als die Polizisten auf ihn zugingen.
Ein Polizist versuchte, auf den Traktor zu klettern, aber der bekam einen kräftigen Tritt ab und flog rücklings auf den Boden und damit direkt in die Gülle. Der Bauer fuhr einfach weiter und düngte weiter. Die Gülle spritzte im hohen Bogen. Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte damit die Polizisten erwischt. Gerade noch rechtzeitig konnten sie zur Seite springen. Der Bauer drehte sich um und lachte nur. Leo hatte genug. Er wartete, bis der Traktor umdrehte und zurückkam. Dann stellte er sich ihm in den Weg. Hans war erschrocken. Der Bauer machte keine Anstalten, vom Gas zu gehen, sondern hielt direkt auf Leo zu. Trotzdem blieb der einfach stehen.
Viktoria, Werner und fast die ganze Suchmannschaft standen auf der Anhöhe und beobachtete erschrocken, was auf dem Feld geschah.
„Leo! Geh weg da, sofort!“, schrie Hans, aber Leo reagierte nicht.
Der Bauer stieg voll auf die Bremse und kam nur ganz knapp vor Leo zu stehen.
„Bist du narrisch?“, rief der Bauer.
Hans sprang auf den Traktor und zog den Mann unsanft aus der Fahrerkabine.
„Hey, was soi denn des?“
„Das gibt eine fette Anzeige, darauf können Sie sich verlassen“, drohte Hans.
„Wega dem bissal Odel?“
„Nicht nur deswegen. Sie haben einen Polizisten tätlich angegriffen.“
„Der hod doch ogfanga. Was hod‘n denn der auf meim Traktor verlorn? Host du dir weh do?“, sprach er den Polizisten an, dessen Uniform voller Gülle war und der sich sichtlich unwohl fühlte.
„Nein“, rief der.
„Also, nix is passiert. Konn i jetzt mei Arbeit weitermacha?“
„Nein, das können Sie nicht. Erstens ist es heute verboten, Odel auszufahren, was Ihnen sicher bekannt ist. Und zweitens behindern Sie damit einen Polizeieinsatz.“
„I behinder wos?“
Statt einer Antwort zeigte Hans dem achtundvierzigjährigen Mann die Hundertschaft, die von hier aus auf der Anhöhe gut zu sehen war.
„Wos mochn die denn auf meim Grund?“
„Wir suchen eine vermisste Person.“
„Werd i da ned gfragt?“
„Nein. Das ist ein Polizeieinsatz, dafür brauchen wir die Ihr Einverständnis nicht. Name und Adresse?“
„Hofberger Michael. Des dort hint is mei Hof.“ Er zeigte auf mehrere Gebäude, die weit entfernt schemenhaft zu erkennen waren.
„Haben Sie heute Nacht irgendetwas gehört oder gesehen?“
„Na. In der Nacht schlaf i.“
„Wir kommen später bei Ihnen vorbei.“
„Warum?“
„Um die Anzeige aufzunehmen. Außerdem wollen wir uns auf Ihrem Hof umsehen.“
„Von mir aus. Macht’s, was ihr ned lassen könnts.“ Michael Hofberger setzte sich wieder auf seinen Traktor.
„Damit wir uns richtig verstehen: Sie hören auf mit Ihrer Arbeit, sofort!“
Der Bauer fuhr davon und schimpfte lautstark. Dass er dabei grinste, bemerkte niemand.
„Was für ein Trottel!“, schimpfte Leo, dessen Puls immer noch raste. Wie konnte er nur so dumm sein und sich dem Mann in den Weg stellen? Das hätte schlimm ausgehen können.
„Für Sie ist Dienstschluss“, sagte Hans zu dem stinkenden Kollegen. „Fahren Sie nach Hause.“
„Danke.“ Sein Kollege begleitete ihn, auch wenn er ein paar Meter Abstand hielt.
„Schöne Scheiße“, sagte Hans. „Meine Schuhe sind völlig hinüber.“
„Meine nicht“, lachte Leo, der sich von dem Schreck erholt hatte.
„Mach das nie wieder, hörst du? Ich dachte, der Mann fährt dich um.“
„Ja, das war knapp, das muss ich zugeben. Auf den letzten Metern wurde mir auch mulmig. Zum Glück ist ja nichts passiert.“
„Wir können weitergehen, der Bauer hat mit dem Odeln aufgehört“, sagte Hans, als sie wieder zurück waren. „Ich würde vorschlagen, dass wir den frisch geodelten Acker auslassen.“
Leo und Hans reihten sich wieder am Ende der Gruppe ein.
„Das war völlig bescheuert von dir. Wie kann man nur so blöd sein?“, sagte Viktoria zu Leo. Noch nie zuvor hatte sie so große Angst um ihn gehabt.
Die Suche ging weiter. Einige Hunde reagierten auf den penetranten Gülle-Gestank, als sie den fraglichen Acker erreicht hatten. Nach zwanzig Minuten war die Gruppe außer Reichweite. Die Hunde beruhigten sich und alle konnten endlich wieder durchatmen. Hans hätte dem Bauern den Hals umdrehen können. Seine Eltern waren ebenfalls Bauern gewesen und er hatte von klein auf mitbekommen, welche Mühen sie auf sich nehmen mussten. Für Hans kam es nie in Frage, diesen Beruf zu ergreifen. Schon immer interessierte er sich für die Polizei und schlug diesen Weg ein, was seine Eltern begeistert aufnahmen. Sie erhofften sich für ihren Sohn ein Leben nach dessen Vorstellungen und Wünschen, auch wenn das bedeutete, dass die Landwirtschaft, wie sie sie übernommen und ausgebaut hatten, nicht weitergeführt wurde. Bis zum Tod der Eltern lief der Betrieb auf dem Hof weiter, allerdings hatten sie schon Jahre vorher alle Äcker und Wiesen verpachtet. Auch die Arbeit mit dem Vieh, das aus vier Rindern, acht Hühnern und sechs Gänsen bestand, hielt sich in Grenzen und konnte von dem betagten Paar bewältigt werden, auch wenn Hans ab und zu aushelfen musste, was er sehr gerne machte.
Hans hatte nach dem Tod beider das Vieh und die landwirtschaftlichen Geräte verkauft. Den Grund behielt er, denn für ihn war es selbstverständlich, diesen nicht zu verkaufen. Für sein Empfinden gehörte es sich nicht, Grundeigentum zu verkaufen, das schon seit Generationen im Familienbesitz war. Den Hof selbst hatte er aus- und umgebaut, um darin bequem und komfortabel leben zu können. Seine Eltern wollten den Umbau zu Lebzeiten nicht. Sie liebten ihren Hof so, wie er war. Außerdem kamen sie mit Neuem nur schwer zurecht. Hans erinnerte sich noch gut an die Zeiten, als die Güllegruben fast überquollen, bis endlich die Freigabe zum Ausbringen kam. Auch damals gab es immer wieder einzelne Bauern, denen das egal war und die sich nicht daran hielten – Typen wie Hofberger, die einfach machten, was sie wollten.
Um 19.30 Uhr brach der Einsatzleiter nach Absprache mit den Kripobeamten die Suche ab. Sie waren weit gekommen und hatten alles gegeben, leider ohne Erfolg. Es wurde nicht die kleinste Spur gefunden, was vor allem von den jüngsten Kollegen mit Erleichterung aufgenommen wurde. Niemand war scharf darauf, eine Leiche zu finden, womit fast alle gerechnet hatten und worüber sich auch alle immer wieder unterhielten.
Die Kollegen hatten Feierabend und gingen zurück zu den Fahrzeugen. Alle, bis auf die Kriminalbeamten und zwei Uniformierte, die Hans bat, sie bei der Durchsuchung von Hofbergers Anwesen zu unterstützen.
Michael Hofberger war beim Abendessen, als die Polizisten auftauchten. Er schimpfte und fluchte, machte aber keine Anstalten, aufzustehen. Er machte sich durch das geschlossene Fenster bemerkbar und aß einfach weiter.
„Ich nehme an, dass das bedeutet, dass wir uns umsehen dürfen“, sagte Hans.
„Gut, fangen wir an.“
Die Kriminalbeamten und die beiden Polizisten sahen sich gründlich um. Auch das Wohnhaus sparten sie nicht aus, das Leo und Hans übernahmen. Hofberger saß am Küchentisch und aß ungeniert weiter. Er dachte nicht einmal daran, sich mit den Polizisten abzugeben. Hans wollte zuerst über die Ausfuhr der Gülle und den tätlichen Angriff auf den Kollegen hinwegsehen, entschied sich aber aufgrund des bockigen, unfreundlichen Verhaltens des Bauern anders. Er trat in die Küche, setzte sich ungefragt an den Tisch und nahm die Anzeige auf. Er las Hofberger vor, was ihm vorgeworfen wurde.
„Is scho recht“, sagte er nur und schnitt eine dicke Scheibe Wurst ab, die fantastisch roch.
„Der Hof ist sauber, im wahrsten Sinne des Wortes. Ich hätte nicht damit gerechnet, das hier vorzufinden, das muss ich zugeben“, sagte Leo. Er war durch das Äußere des Besitzers voreingenommen und hatte einen heruntergekommen, alten Bauernhof erwartet. Das hier war weit davon entfernt. Alles war in einem sehr guten Zustand. Die Halle und der große Traktor waren nagelneu.
„Ich kenne mich in der Landwirtschaft nicht aus. Kann man von dreißig Stück Vieh und den Äckern und Wiesen gut leben?“, wollte Viktoria wissen.
„Das kann ich mir nicht vorstellen“, antwortete Hans, der als einziger eine Ahnung von Landwirtschaft hatte. „Meine Eltern hatten ungefähr die doppelte Größe und mussten jeden Cent zweimal umdrehen.“
„Vielleicht eine Erbschaft?“, sagte einer der Polizisten.
„Das finden wir heraus.“
„Was hat Hofberger zu dir gesagt?“
„Nicht viel. Wenn ihr mich fragt, ist der ziemlich einfältig.“
„Oder besonders schlau.“
Die Polizisten machten sich auf den Weg zurück zu ihren Fahrzeugen, was für alle beschwerlich war, denn der schmale Feldweg verlief nicht eben, sondern stieg leicht an. Alle waren müde und hatten genug für heute. Zumindest war die Temperatur jetzt angenehm.
„Ich sagte dir, dass du mich nur im Notfall anrufen sollst!“
„Das ist ein Notfall. Die Polizei war hier und hat herumgeschnüffelt.“
„Die Polizei? Warum war die bei dir?“
„Mach dir keine Sorgen, ich habe alle Spuren beseitigt. Dafür habe ich die ganze Nacht durchgearbeitet. Das Grundstück ist jetzt ein Acker. Das war eine Heidenarbeit, das kannst du mir glauben. Das kostet extra, dass das klar ist.“ Michael Hofberger hatte sich jedes einzelne Wort zurechtgelegt. Er sprach betont langsam und deutlich. Seine Laune war trotz der Müdigkeit bestens, denn er hatte gute Karten, noch ein Extrasümmchen für eine weitere Anschaffung aus seinem Geschäftspartner herauszukitzeln.
„Welche Spuren hast du beseitigt? Wovon sprichst du? Was ist passiert?“
„Nichts ist passiert, dafür habe ich gesorgt.“
„Du hast Glück, dass ich gerade keine Zeit habe, um mir länger dein Geschwafel anzuhören. Kann ich mich darauf verlassen, dass die Polizei nichts gefunden hat und auch nichts finden wird?“
„Klar, Mann. Ich habe denen angesehen, dass die umsonst hier herumgelaufen sind. Den ganzen Nachmittag haben sie sinnlos die ganze Gegend durchkämmt. Ein paar von den Bullen haben sich aufgespielt und sich wichtig gemacht. Ich gab ganz den dümmlichen, grantigen Bauern, den sie mir abgenommen haben. Die tauchen hier nicht mehr auf, darauf kannst du Gift nehmen.“ Hofberger lachte hämisch. „Was ist nun mit meinem Bonus?“
„Meinetwegen. Ich hinterlege den Umschlag an der vereinbarten Stelle.“
„Wann kommt die nächste Lieferung?“
„Es gefällt mir nicht, dass die Polizei bei dir herumlungert. Besser, wir lassen die Sache vorerst ruhen. Ich melde mich wieder. Und ruf mich nicht wieder an. Sollte ich eine weitere Zahlungsaufforderung erhalten, werde ich die Zusammenarbeit abbrechen, verstanden?“
„Klar, Chef.“ Hofberger freute sich und gönnte sich einen Schnaps. Er hatte amüsiert beobachtet, wie die Polizisten einen weiten Bogen um den neuen Acker machten. Klar, niemand von denen wollte sich dreckig machen. Er lachte laut und schenkte sich einen weiteren Schnaps ein. Dann ging er zu seinem Traktor, tankte das Güllefass randvoll und fuhr die Ladung auf den Acker, bei dem er heute die Arbeit unterbrechen musste. Erst sehr spät war er fertig damit und betrachtete sein Werk. Alles sah nach einer ganz normalen Ackerfläche aus – perfekt!
Für heute war Feierabend für die Kriminalbeamten, allen war die Anstrengung ins Gesicht geschrieben. Vor allem Viktoria sah schlimm aus, da sie einen fetten Sonnenbrand im Gesicht hatte. Werner fuhr nach Hause, wo Frau und Tochter auf ihn warteten. Ein lustiger Spieleabend rundete den für Werner perfekten Arbeitstag ab.
Nachdem Hans geduscht und sich umgezogen hatte, fuhr er pfeifend los. Die Verabredung, eine Eroberung vom Samstag, schien verheißungsvoll zu werden. Schon zwei Mal hatte er mit der süßen Kirsten telefoniert, die viel zu jung für ihn war. Aber das war ihm gleichgültig. Er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft und amüsierte sich – was wollte er mehr?
Viktoria kaufte unterwegs beim Italiener wie so oft eine Pizza. Hier wurde sie bereits wie eine Stammkundin behandelt, heute bekam sie eine Portion Salat obendrauf geschenkt. Ob man sie vermissen würde, wenn sie wieder abreiste?
Sie aß im Zimmer ihrer kleinen Pension, die mitten in Mühldorf lag. Sie saß im Bett und zappte durch die Programme. Das würde wieder einer dieser gähnend langweiligen Abende werden, die ihr langsam auf die Nerven gingen. Tante Gerda, Leos Vermieterin und Ersatzmutter, hatte sie mehrfach eingeladen. Wegen Leos abweisender Art verzichtete sie lieber darauf. Heute langweilte sie sich besonders, sie sehnte sich nach Gesellschaft. Ob sie vielleicht doch noch den Mut fand, bei Tante Gerda aufzutauchen? Sie wischte den Gedanken beiseite und ließ ein Bad ein. Für die immer noch vorherrschende Hitze war das zwar übertrieben, aber sie musste entspannen, um in Ruhe nachdenken zu können. Nach einem sehr langen Bad war sie müde geworden und entschied, hier zu bleiben, einen Film anzusehen und den Besuch, wieder einmal, zu verschieben.
Leo hatte Glück mit dem Abendessen, Tante Gerda hatte für ihn mitgekocht. Sie saßen vor dem Haus, aßen Schnitzel und Kartoffelsalat, und genossen die Wärme und Ruhe. Leo erzählte von seinem Arbeitstag und verriet mehr, als ihm erlaubt war. Er hatte keine Geheimnisse vor Tante Gerda, die in Wahrheit Hans Hieblers Tante war und die alle nur Tante Gerda nannten.
„Du meine Güte! So jung darf man nicht sterben, das ist eher für mein Alter gedacht“, sagte sie und legte Leo noch ein Schnitzel auf. Er war für ihre Begriffe viel zu dünn geworden und das gefiel ihr nicht.
„Du wirst uns noch alle überleben, Tante Gerda!“, rief Leo, öffnete den Knopf seiner Jeans und machte sich über das zweite Schnitzel her.
„Wollen wir hoffen, dass der andere Junge wieder wohlbehalten auftaucht.“
Nach dem Essen tranken die beiden Rotwein und unterhielten sich noch lange über Gott und die Welt. Der Hofhund Felix, den Leo bei seinem ersten Fall in Mühldorf in einem erbärmlichen Zustand gerettet hatte, schlief selig, nachdem Tante Gerda das letzte Schnitzel an ihn verfüttert hatte.
„Du musst aufhören, den Kleinen zu mästen. Nicht mehr lange, und man kann ihn rollen.“
Das hörte Tante Gerda überhaupt nicht gerne. Sie liebte Felix und sah ihn mit anderen Augen. Und zwar immer noch so, wie sie ihn damals aus dem Tierheim geholt hatte. Schnell wechselte sie das Thema, denn auf dem Ohr war sie taub. Dann wurde es kühl und Tante Gerda ging zu Bett, der kleine Felix folgte ihr.
Leo saß noch lange vor dem Haus und betrachtete den Sonnenuntergang. Dabei dachte er über den heutigen Tag nach. Wo war Julian? War er noch am Leben? Was war in der letzten Nacht geschehen?…