Die Köpfe des berüchtigten Münchner Bottas-Clans wurden verhaftet, die Gerichtsverhandlung steht unmittelbar bevor. Der Buchhalter des Clans ist bereit, vor Gericht auszusagen – und steht dadurch auf deren Abschussliste, denn Verräter müssen sterben.
Leo Schwartz und seine Kollegen sollen den Kronzeugen schützen. Die Aufgabe sieht anfangs einfach aus, wird aber durch eine undichte Stelle brandgefährlich…
1.
Die junge Frau ahnte, was jetzt kommen würde, auch wenn sie kein Wort verstand. Sie hatte sich seit ihrer Entführung gewehrt, sobald sie die Möglichkeit dazu hatte. Die anderen hatten sie gewarnt, aber sie wollte nicht hören. Sie war die stolze Tochter eines Grundbesitzers in der Osttürkei und ihre Familie war in der Gegend sehr angesehen, auch wenn sie nicht wirklich reich waren. Ihre Eltern achteten immer darauf, dass sie gut gekleidet war und ermöglichten ihr nicht nur einen Schulbesuch, sondern auch einen Privatlehrer mit Namen Alaron, der sich in diese karge Ecke der Welt verirrt hatte und sich mit ihr und einem weiteren Schüler den Lebensunterhalt verdiente. Sie hatte keine Geschwister, weshalb die volle Aufmerksamkeit der liebevollen Eltern ihr allein galt. Ihre Welt war in Ordnung – bis sie vor einer gefühlten Ewigkeit auf dem Nachhauseweg vom Besuch ihres Onkels entführt wurde. Natürlich hatte sie sich mit aller Kraft gewehrt, aber die fremden Männer waren stärker, sie hatte nicht den Hauch einer Chance gehabt. Sie fand sich nach einer langen und ungemütlichen Fahrt zusammen mit acht anderen jungen Frauen, von denen viele nicht ihre Sprache sprachen, in einer dreckigen Hütte wieder. Trotzdem fanden sie einen Weg, sich zu verständigen. Keine hatte eine Ahnung, wo sie waren und was mit ihnen geschehen würde – aber jede einzelne hatte eine Vorahnung, die niemand wagte, auszusprechen. In den zwei Tagen Gefangenschaft bekamen sie nur altes Brot und schmutziges Wasser. Dann wurden sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und auf die Ladefläche eines Lastwagens gepfercht. Es war dunkel und kalt. Anfangs war die Fahrt holprig, dann wurde sie ruhiger. Draußen wurde es lauter und Zisan schöpfte Hoffnung. Der Lastwagen stoppte. Waren sie am Ziel ihrer Reise angekommen? Zwei Männer zogen eine Frau nach der anderen von der Ladefläche und führten sie auf ein Schiff. Dort wurden sie wie Vieh in einen Container getrieben, in dem bereits weitere Frauen auf dem Boden kauerten. Einer der Männer reichte jeder zwei große Flaschen Wasser, dann wurde der Container beladen und verschlossen. Zisan bemerkte einige Packungen Brot auf dem Boden. Wie lange das wohl für die zweiundzwanzig Frauen reichen würde? Sie nahm sich vor, sparsam mit ihrem Wasser umzugehen. Nach wenigen Stunden fühlten alle, dass das Schiff ablegte. Viele weinten, andere sprachen Gebete. Zisan blieb ruhig. Sie hatte sich vorgenommen, keine Angst zu zeigen und sich nicht gehen zu lassen. Sie machte sich Sorgen um ihre Eltern, die sicher schon längst nach ihr suchten. Ob sie sie je wiedersehen würde?
Wie lange sie unterwegs waren, konnte Zisan nicht sagen. Sie schätze etwa sieben Tage, es könnten aber auch mehr oder weniger sein. Das Wasser war längst zu Ende, Durst und Hunger wurden unerträglich. Alle mussten sich in die beiden Eimer erleichtern, was mehr und mehr zum Problem wurde. Einige Frauen waren seekrank geworden und hatten sich übergeben, was das Atmen zusätzlich erschwerte. Als endlich der Container geöffnet und entladen wurde, versuchte jede einzelne, die frische Luft tief einzuatmen. Draußen war es hell, die Augen der Frauen konnten sich nach der langen Dunkelheit nur langsam an das Licht gewöhnen.
Zisan erkannte die beiden Männer, die sie hier eingesperrt hatten. Stolz hob sie den Kopf und kletterte allein aus dem Container, als einer ihr helfen wollte, auch wenn sie sehr wacklig auf den Beinen war. Sie wollte keine Schwäche zeigen, was ihr sehr gut gelang. Bei dem ihr angebotenem Wasser und den Broten langte sie zu, schließlich musste sie bei Kräften bleiben. Sie wurden in einen Lieferwagen gesetzt, der überraschenderweise sehr sauber und bequem war. Allerdings gab es keine Fenster, weshalb es nicht möglich war, herauszufinden, wo sie sich befanden. Ob eine der Frauen das überhaupt erkennen würde? Vermutlich nicht.
Nach einer mehrstündigen Fahrt waren sie an ihrem Ziel angekommen. Sie durften duschen und bekamen frische Kleidung. Sie wurden in einen Raum geführt, bei dem ihr sofort klar war, was das zu bedeuten hatte: Prostitution! Sie hatte nicht nur darüber gelesen, sondern auch mit ihrem Vater darüber gesprochen, auch wenn ihm das Thema sehr unangenehm gewesen war. Sie sehnte sich nach ihrem Vater, der sie sehr liebte und der sie immer beschützt hatte. Jetzt war sie auf sich allein gestellt.
Zisan machte es den Männern nicht leicht, die versuchten, ihren Stolz zu brechen, was ihr sehr viel Ärger einbrachte. Sie kratzte, biss und schlug um sich. Vor allem einer der Entführer, der offenbar Patrick hieß, bekam ihren Widerstand ab. Aber der Mann war ebenso stur wie sie und wollte nicht so schnell aufgeben. Immer wieder lockte er sie aus der Reserve. Wenn sie sich wehrte, schlug er sie. Die Schläge wurden heftiger. Schnell hatte sie erkannt, dass man sie ein, zwei Tage in Ruhe ließ, wenn sie geschlagen wurde. Das nutzte sie aus. Während ihrer Erholungsphasen fiel ihr ein Mann auf, der zu ihren Entführern gehörte, aber im Gegensatz zu den anderen sehr gütige Augen hatte. Sie lächelten sich nur an, was Balsam für ihre Seele war. Ein einziges Mal hatten sie die Möglichkeit, ein paar Worte zu wechseln. Der Mann schien überrascht, dass sie Englisch sprach, auch wenn sie mit der Grammatik Probleme hatte. Während sie die Worte aussprach, musste sie an den alten Alaron denken, der sich große Mühe gab, ihr die Worte beizubringen. Sie hätte weinen können, aber sie riss sich zusammen.
Die hohe Stimme des fremden Mannes schreckte sie nicht ab. Sie hatte einen Nachbarn, der ähnlich sprach und über den sich viele lustig machten. Das hatte sie immer gehasst. Schon nach wenigen Worten tauchte dieser widerliche Patrick auf und zog sie mit sich. Trotzdem hielt sie immer wieder Ausschau nach dem netten Mann, der hier irgendwie nicht dazuzugehören schien. Vielleicht bekam sie mit ihm die Möglichkeit zur Flucht?
Irgendwann wurde es hektisch. Allen Frauen wurde befohlen, die ihnen gereichte Kleidung anzuziehen, die kaum das Nötigste bedeckten. Zisan weigerte sich, diese Fetzen anzuziehen, die nicht mit ihrem Glauben und ihrer Erziehung vereinbar waren.
Patrick war kurz davor, sie erneut zu schlagen. Langsam hatte er genug von dieser Kratzbürste. Sie machte nur Probleme und rebellierte, wo sie nur konnte. Er musste aufpassen, dass sich das nicht auf die anderen Frauen übertrug. Da er wusste, dass der Chef keine Blessuren an seinen Frauen sehen wollte, hielt er sich zurück und gab nach. Zisan wurde in einen Raum geführt, in dem die anderen Frauen bereits aufgereiht standen. Sie sahen alle wie billige Nutten aus und jede einzelne schämte sich für ihren Aufzug. Zisan sah sich um und bemerkte den Mann in einer Ecke stehen, der ihre einzige Hoffnung gewesen war. Warum ließ er das zu? Warum machte er nichts? Patrick schob sie grob zu den anderen. Sie war die einzige, die ein Kleid trug und damit aus der Reihe der dürftig gekleideten Frauen herausstach. Der Fremde, den alle ehrfürchtig behandelten und mit Stefan ansprachen, kam sofort auf sie zu. Er stand dicht vor ihr, sie konnte seinen schlechten Atem riechen. Am liebsten hätte sie den Kopf zur Seite gedreht, aber sie hielt seinem Blick stand.
Stefan gefiel diese Frau. Sie zeigte keine Furcht und ihr Stolz war spürbar. Diese Art Frauen waren zwar nicht besonders gefragt, brachte aber auch eine hübsche Summe ein, wenn er den richtigen Käufer fand. Er packte sie am Kinn und sah ihr in die Augen.
„Das ist die Frau, mit der es Probleme gibt?“, wandte er sich an Patrick, ohne den Blick von Zisan zu wenden.
„Ja, das ist sie. Sie wurde in der Osttürkei aufgegriffen. Sie hat von Anfang an nur Ärger gemacht. Ich habe hart durchgegriffen, aber das schien ihr nichts auszumachen.“
„Eine Türkin? Sagte ich nicht, dass ich keine mehr haben möchte?“
„Die wurde uns angeboten und kostete nicht viel, also habe ich zugeschlagen. Wenn ich geahnt hätte, wie schwierig sie ist, hätte ich sie nicht genommen.“
Stefan sah sie sich von allen Seiten an, blieb aber immer an ihren fast schwarzen Augen hängen, die ihn anzogen.
„Du tust dir mit deiner Gegenwehr keinen Gefallen, meine Schöne. Je eher du verstehst, dass du keine Chance hast, desto besser.“
„Das wird nichts, Chef. Diese Sorte kenne ich. Mit der werden wir nur Probleme haben.“
Stefan vermutete eine Frau aus gutem Hause und versuchte, ihr in den Mund zu sehen, denn die Zähne sagten viel über die Herkunft aus.
Zisan hatte kein Wort verstanden. Sie war voller Hass. Als der Fremde auch noch seine dreckigen Finger in ihren Mund steckte, war sie außer sich. Mit aller Kraft biss sie zu. Und zwar so heftig, bis sie sein Blut schmecken konnte. Der Mann erschrak und schrie wie am Spieß. Als sie den Mund öffnete, zog er seine Finger zurück. Zu allem Überfluss spuckte sie ihn auch noch an. Die mit Blut durchtränkte Spucke landete direkt in seinem Gesicht und war für alle sichtbar. Patrick eilte hinzu und reichte Stefan ein Tuch, mit dem er die blutenden Finger rasch einband. Unruhe machte sich breit, alle starrten Zisan an.
Die hielt stolz den Kopf gerade und sagte keinen Ton. Sie fühlte sich im Recht. Dieser Stefan hatte sie betrachtet wie ein Stück Vieh, und das erlaubte sie ihm nicht. Sie hatte sich mit aller Kraft gewehrt – und als sie das wütende Gesicht des Mannes sah, hatte sie verstanden, dass das ihr Todesurteil war.
2.
Zehn Wochen später…
„Jetzt hör endlich mit deiner Bockerei auf, du beleidigte Leberwurst!“ Der achtundfünfzigjährige Kriminalhauptkommissar Hans Hiebler hatte die Nase gestrichen voll. Er war seit drei Monaten aus Las Vegas zurück, wo er seine Freundin Anita geheiratet hatte. Er hatte niemandem davon erzählt, was er auch nicht als seine Pflicht ansah. Das war eine Sache zwischen ihm und seiner Anita – und ging niemanden etwas an. Als die Nachricht durchsickerte, gratulierten ihm alle Freunde und Kollegen. Sie alle freuten sich mit ihm – aber nicht Leo Schwartz. Der reagierte sauer und war beleidigt. Leo vermied jeglichen Kontakt, der über das Berufliche hinausging und sprach seitdem nur das Nötigste mit ihm.
„Leck mich!“, sagte Leo und verschränkte die Arme vor der Brust. Den vierundfünfzigjährigen gebürtigen Schwaben hatte die Nachricht sehr getroffen. Waren er und Hans nicht die besten Freunde, die alles voneinander wussten und sich blind vertrauten? Offensichtlich nicht, denn sonst hätte wenigstens er Bescheid gewusst, anstatt wie ein Trottel dazustehen. Nein, diesen Vertrauensbruch würde er Hans niemals verzeihen. Seitdem vermied er es so gut es ging, mit ihm zusammenzuarbeiten oder ihn auch nur anzusehen. Worte wurden nur wenige gewechselt. Leo hatte seinen Jahresurlaub längst aufgebraucht, weshalb es jetzt seit Wochen keinen Grund mehr gab, nicht zur Arbeit zu gehen. Er hätte eine Krankheit vorschieben und zuhause bleiben können, aber das war nicht sein Ding.
„Leute, bitte!“, versuchte die Leiterin der Mordkommission Tatjana Struck zu schlichten – wie so oft in den letzten Monaten. Sobald die beiden aufeinandertrafen, war die Stimmung im Keller. Außerdem waren die beiden mehrmals kurz davor gewesen, sich an die Gurgel zu gehen, wobei die Provokationen von beiden Seiten ausgingen. Tatjana fühlte sich wie im Kindergarten und hatte langsam keine Lust mehr, zur Arbeit zu gehen. Es gab keinen neuen Mordfall, weshalb sie und die beiden Streithähne gezwungen waren, andere Aufgaben zu übernehmen und die Kollegen zu unterstützen, was keinem besonders gefiel. Sie hatten keine Wahl, denn die Kriminalpolizei Mühldorf war durch Urlaub und ungewöhnlich viele Krankheitsfälle völlig unterbesetzt. Für die verletzte Kollegin Diana Nußbaumer, die sich sehr gut erholte, war immer noch kein Ersatz eingetroffen, der vielleicht die Stimmung etwas anheben könnte. Krohmer versprach immer wieder, dass das Problem nur ein kurzfristiges sei, aber trotzdem hatte sich noch nichts an der Situation geändert.
Warum hatte der Chef um eine Besprechung gebeten? Alle hofften inständig, dass es eine neue Aufgabe gäbe, mit der alle auf andere Gedanken kämen.
Es herrschte wieder Schweigen, was allen aufs Gemüt schlug.
Endlich betrat Rudolf Krohmer gemeinsam mit dem Staatsanwalt Eberwein das Besprechungszimmer. Krohmers Laune war nicht die beste, was alle sofort merkten.
„Wo ist Fuchs?“, raunte Krohmer und sah Tatjana an.
„Keine Ahnung!“
„Na, dann holen Sie ihn!“, sagte der Staatsanwalt, dessen Laune auch nicht besser war.
„Bin ich hier das Kindermädchen?“ Tatjana war sauer. Solch eine Behandlung brauchte sie sich nicht gefallen lassen. Sie nahm ihr Handy und rief Fuchs an.
„Was?“, maulte der Leiter der Spurensicherung, nachdem er es hatte lange klingeln lassen.
„Wir warten auf Sie im Besprechungszimmer. Los, Tempo!“ Tatjana legte auf und sah Krohmer an, der nur nickte.
Fuchs hatte die Zeit vergessen und erschrak. Er war sonst immer pünktlich und mochte es selbst nicht, wenn man sich nicht an Vereinbarungen und Termine hielt. Er ließ alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg. Ob er sich entschuldigen sollte? Das war das mindeste, was er tun konnte.
„Ich bitte vielmals…“
„Setzen Sie sich!“, unterbrach Krohmer. „Jetzt, da wir vollständig sind, können wir endlich anfangen. Bitte, Herr Eberwein.“
„Ihnen sagt der Name Wolfgang Terpitz etwas?“
„Nein“, sagte Tatjana.
„Wer soll das sein?“, rief Leo.
Eberwein schüttelte den Kopf, denn es war augenscheinlich so, dass niemand den Leitenden Oberstaatsanwalt der Wirtschaftskammer des Landgerichts München II kannte, was ihm unbegreiflich war. Terpitz war im bayerischen Justizkreis eine Berühmtheit und hatte sich in den letzten fünfzehn Jahren einen sehr guten Ruf erarbeitet. Zum Glück hatte Eberwein ein Infoblatt des Landgerichts München II dabei, auf dem auch Terpitz‘ Bild abgedruckt war.
Er gab den Mühldorfer Kriminalbeamten einen Moment.
„Na? Dämmerts?“
„Ich kenne den Mann trotzdem nicht“, sagte Leo, der mit Unwissenheit kein Problem hatte. Man konnte schließlich nicht alles wissen.
„Ich bin Terpitz einmal begegnet“, sagte Hans Hiebler. „Sie erinnern sich, Chef?“
Krohmer nickte.
„Schleimscheißer“, flüsterte Leo.
„Halt die Klappe!“, flüsterte Hans zurück.
Beide ernteten von Krohmer einen Blick, der sich gewaschen hatte. Natürlich hatte auch er mitbekommen, dass es zwischen den beiden große Diskrepanzen gab, die ihn aber nichts angingen. Das sollten die beiden mal schön unter sich ausmachen. Sobald er aber mitbekäme, dass dieser Streit offen in seiner Polizei ausgetragen wurde oder gar die Arbeit beeinflusste, musste er einschreiten. Noch war es nicht so weit, denn er hatte noch nichts davon mitbekommen. Das lag auch daran, dass Tatjana kein Wort darüber verlor.
„Sie haben sicher alle von dem bevorstehenden Strafverfahren gegen den Bottas-Clan gehört.“
„Logisch, die Medien berichten ja von nichts anderem mehr“, sagte Fuchs und sah auf die Uhr. Warum war er hier? Was ging ihn das hier an?
„Die Verbrechen, die diesem Clan angelastet werden, wurden hauptsächlich in Süddeutschland verübt. Man hat sich dafür ausgesprochen, dass die Gerichtsverhandlung im Landgericht München II stattfindet, was Terpitz als zuständiger Oberstaatsanwalt angeregt hatte. Diese Information sollte eigentlich geheim bleiben, ist aber trotzdem durchgesickert. Dass der Ort der Gerichtsverhandlung bekanntgeworden ist, ist nicht mehr zu ändern. Es wissen nur sehr wenige, wann die Gerichtsverhandlung stattfindet und das soll auch so bleiben. Die Freunde des festgenommenen Franco Bottas und seines Bruders Stefan werden alles versuchen, die Verhandlung zu sabotieren.“
„Woher wollen Sie das wissen?“, maulte Leo, der kein Interesse an dem hatte, was Eberwein von sich gab. Was ging das die Mühldorfer Kriminalpolizei an?
„Wir haben unsere Quellen, Herr Schwartz. Wenn ich sage, dass von Seiten des Bottas-Clans alles unternommen wird, um das Strafverfahren zu verhindern, dann ist das so! Und daran werden auch die Anwälte nichts ändern, die die Bottas-Brüder vertreten.“
„Aber was haben wir….?“
„Wenn Sie jetzt endlich den Staatsanwalt ausreden lassen würden, kämen wir auf den Punkt“, rief Krohmer wütend, der diese Unterbrechungen hasste.
„Danke, Herr Krohmer. Oberstaatsanwalt Terpitz hat sich vertrauensvoll an mich gewandt, da er Angst um den Kronzeugen hat. Hermann-Josef Masberg war ein Mitglied des Bottas-Clans, er war für die Finanzen zuständig. Dieser Zeuge hat sich bereiterklärt, umfassend gegen die Familie Bottas auszusagen. Ich brauche nicht betonen, dass Masberg als Kronzeuge Gold wert ist.“
„Verstehe ich das richtig? Wir sollen das Kindermädchen für einen Zeugen spielen?“, rief Tatjana, die das nicht glauben konnte.
„Ich verbitte mir diese abfälligen Äußerungen, Frau Struck!“ Krohmer war sauer. Was sollte diese Respektlosigkeit? „Ein Zeuge ist in Gefahr und ein Oberstaatsanwalt bittet uns um Amtshilfe. Selbstverständlich werden wir uns der Sache annehmen!“
„Wie haben Sie sich das vorgestellt, Herr Eberwein?“ Leo war neugierig geworden.
„Für eine Unterbringung ist gesorgt. Zwei von Ihnen werden Masberg rund um die Uhr bewachen. Eine Person brauchen wir für den Schutz des Hauses. Mehr Personal wird nicht nötig sein.“
„Ich verstehe. Wir sollen dafür sorgen, dass dem Zeugen bis zur Gerichtsverhandlung nichts geschieht. Wer weiß von dem Haus? Ist es wirklich sicher?“ Hans war sofort dabei.
„Es handelt sich um ein neues Haus, dessen Adresse Ihnen noch bekanntgegeben wird. Nur Herr Krohmer und der Oberstaatsanwalt wissen von dem Versteck, ich selbstverständlich auch. Das Haus ist sicher, darauf können Sie sich verlassen.“
„Was ist mit mir? Was habe ich damit zu tun?“, wollte Fuchs wissen, der seine Rolle immer noch nicht verstand.
„Bevor der Zeuge das Haus betritt, muss es auf Herz und Nieren geprüft werden. Wir sind zwar sicher, dass das Haus sauber ist, aber wir wollen trotzdem kein Risiko eingehen. Herr Krohmer meinte, dass Sie genau der Richtige dafür sind.“
„Ich verstehe. Und das sollte so unauffällig wie möglich geschehen, damit die Nachbarn nicht aufgeschreckt werden.“ Fuchs lehnte sich zurück und dachte darüber nach, wie das am besten zu bewerkstelligen wäre. „Hat das Haus einen Garten?“
„Ja. Warum?“
„Meine Mitarbeiter und ich könnten uns als Gärtner ausgeben.“
„Mitarbeiter? Das geht nicht, Herr Fuchs, Sie müssen das allein übernehmen. Je weniger von dem Haus und dem Zeugen wissen, desto besser.“
Fuchs war nicht begeistert, denn ein Haus samt Grundstück war eine riesige Aufgabe für einen allein. Aber er verstand, dass der Kreis der Eingeweihten klein bleiben musste, um den Zeugen und die Kollegen nicht zu gefährden.
„Wie viel Zeit habe ich?“
„Bis heute Abend.“
„Das werde ich kaum schaffen“, schüttelte Fuchs den Kopf.
„Das werden Sie müssen, Herr Fuchs. Ich schlage vor, dass Ihnen Frau Struck zur Hand geht. Der Zeuge befindet sich momentan an einem sicheren Ort. Die Herren Schwartz und Hiebler werden den Zeugen heute Mittag übernehmen und in das sichere Versteck bringen.“
„Ich soll doch wohl nicht auch dortbleiben!“, rief Fuchs erschrocken.
„Nein, Sie kehren heute Abend zurück. Für die Sicherheit des Zeugen sind die Kriminalbeamten zuständig.“
Leo wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Er sollte mit Hans eng zusammenarbeiten? Das konnte ja heiter werden! Aber der Streit mit Hans war jetzt nicht wichtig, auch wenn er nicht begeistert von der neuen Aufgabe war.
„Ich muss hoffentlich nicht betonen, dass absolutes Stillschweigen anderen gegenüber gewahrt wird. Alle Informationen laufen über Herrn Krohmer, nicht über mich. Offiziell habe ich mit dieser Aktion nichts zu tun. Jeder weiß, dass der Kollege Terpitz und ich schon seit vielen Jahren Kontakt pflegen. Es wird durchsickern, dass der Zeuge irgendwo untergebracht wird und die Familie Bottas wird alles versuchen, Masberg aufzuspüren und zum Schweigen zu bringen. Ich sollte anmerken, dass es vermutlich einen Informanten innerhalb der Polizei oder der Justiz gibt, deshalb gilt die höchste Sicherheitsstufe. Telefonate Ihrerseits, auch privater Natur, sind verboten. Ab jetzt kein Wort mehr zu Angehörigen. Handys dürfen nur im äußersten Notfall benutzt werden, am besten überhaupt nicht.“ Eberwein stand immer noch. Er zitterte, denn er wusste, welches Risiko die Mühldorfer Polizei und damit die Kriminalbeamten eingingen. Mit der Familie Bottas und ihresgleichen war nicht zu spaßen. Es war bekannt, dass Abtrünnige des Clans von einem auf den anderen Tag spurlos verschwanden und nie wieder auftauchten. Das durfte mit dem Zeugen Masberg nicht geschehen, er hatte Terpitz sein Wort gegeben.
Die Kriminalbeamten waren erschrocken. War diese Aufgabe nicht eine Nummer zu groß für sie?
„Ich werde mich jeden Abend um zweiundzwanzig Uhr melden beziehungsweise das Handy einschalten“, sagte Krohmer und überreichte Tatjana und Hans jeweils ein Handy. „Der Kontakt findet ausschließlich über diese Handys statt, die sind sicher. Meine Nummer ist eingespeichert, auch ich habe dafür ein neues Handy. Das mag Ihnen vielleicht paranoid vorkommen, aber ich möchte kein Risiko eingehen. Ihr Einsatz beginnt ab sofort. Da ich davon ausgehe, dass sich Ihre Angehörigen bei mir melden werden, wird mir schon etwas einfallen, womit ich Ihre Abwesenheit erkläre. Noch etwas: Masberg ist gesundheitlich angeschlagen. Die ganze Aufregung war zu viel für ihn, er braucht medizinische Betreuung. Dafür habe ich gesorgt.“ Krohmer hakte einen Punkt nach dem anderen ab. Eberwein hatte ihm die Durchführung überlassen und er hatte sich lange Gedanken darüber gemacht, wie diese gefährliche Aufgabe am sichersten durchgeführt werden sollte. „Für diese Aufgabe bekommen Sie zusätzliche Waffen und Munition, die Sie sich in meinem Büro abholen können. Gibt es Fragen?“
„Wir brauchen Kleidung“, wandte Tatjana ein.
„Die ist bereits vor Ort. Ich war so frei, mich darum zu kümmern.“
„Wie lange soll der Einsatz dauern?“, fragte Leo, der sich überfahren fühlte. Heute Morgen noch schien es, als würde ein ganz normaler Arbeitstag bevorstehen und jetzt das!
„Bis zum Beginn der Verhandlung. Uns ist der Termin bekannt, Ihnen wird er noch genannt werden. Gehen Sie von ein bis zwei Wochen aus.“
„Zwei Wochen?“, rief Leo und warf Hans einen Blick zu, der nicht sehr freundlich war.
„Haben Sie ein Problem damit?“, sagte Krohmer und sah Leo an, der darauf den Kopf schüttelte. „Dann wünsche ich Ihnen alles Gute!“
Tatjana ging auf Fuchs zu.
„Dann werden wir beide das Vergnügen haben, Kollege Fuchs. Ich schlage vor, dass wir keine Zeit verschwenden und uns sofort auf den Weg machen.“
Fuchs nickte nur, denn dass das kein Vergnügen werden würde, war ihm jetzt schon klar. Er wusste, dass sich die Struck nicht zurückhalten würde und jede Anweisung seinerseits kommentieren und auch anzweifeln würde. Am liebsten würde er einen seiner Kollegen mitnehmen, aber das durfte er nicht.
„Geben Sie mir eine halbe Stunde, dann kann es losgehen.“
„Worauf warten wir?“
„Ich muss mich vor Ihnen nicht rechtfertigen, Frau Struck. Ich bin in einer halben Stunde fertig, dann können wir sofort los.“ Fuchs musste den Inhalt seines Wagens überprüfen. Warum verstand die Frau das nicht? Dachte sie wirklich, dass er immer und überall alles dabei hatte, was er brauchte?
Leo und Hans folgten Krohmer in dessen Büro. Beide waren erschrocken über das Waffenarsenal, dass für sie bereitstand.
„Ziehen wir in den Krieg?“, versuchte Hans zu scherzen.
„Das ist nicht lustig, Herr Hiebler. Nehmen Sie die Waffen mit. Ich bin froh, wenn ich sie los bin. Noch etwas: Ich spüre Spannungen zwischen Ihnen beiden. Muss ich mir Sorgen machen?“
„Nein!“, riefen beide gleichzeitig.
Jetzt galt es für Leo und Hans zu warten. Sobald der Anruf kam und sie erfuhren, wo der Zeuge abzuholen war, konnte es losgehen. Bis dahin herrschte Schweigen. Leo nutzte die Zeit und suchte im Netz nach Informationen über den Bottas-Clan und die beiden Festgenommenen, ohne zu ahnen, dass Hans es ihm gleichtat.
Die Familie Bottas kam ursprünglich aus Spanien, war aber seit den frühen achtziger Jahren in Deutschland. Sehr schnell fielen einige Mitglieder negativ auf. Stück für Stück rissen sie den Drogenhandel an sich und verbreiteten in München, später in den umliegenden Städten wie Nürnberg, Regensburg, Rosenheim Angst und Schrecken. Längst ging es nicht mehr nur um Drogen, sondern auch um Zigarettenschmuggel, Prostitution und Körperverletzung, was nicht selten in Mordvorwürfen endete. Die Familie war so gut vernetzt, dass nur sehr selten jemandem etwas nachgewiesen werden konnte. Obwohl bekannt war, was die Familie Bottas machte, lebte sie unbehelligt und nahm am normalen gesellschaftlichen Leben Teil. Es gab nicht wenige Gesetzeshüter, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, dem Treiben der Bottas ein Ende zu setzen, aber das war nie gelungen. Noch bevor es zu einer Gerichtsverhandlung kam, waren Beweise vernichtet und Zeugen spurlos verschwunden. Leo lehnte sich zurück. Donnerwetter! Das konnte ja heiter werden.
Auch Hans war beeindruckt von den Informationen und er dachte ähnlich wie Leo. Er druckte einige Fotos aus und steckte sie ein. Und jetzt? Was sollte er noch tun, um nicht mit Leo reden zu müssen? Er ging zur Toilette und trank danach einen Kaffee auf dem Flur. Dort traf er Kollegen, mit denen er kurze Schwätzchen halten konnte. War jetzt endlich genug Zeit verstrichen? Hans war sauer auf Leo, der offenbar nicht verstand, dass er in Las Vegas geheiratet hatte, ohne dass jemand davon wusste. War das nicht sein gutes Recht? Leo war eingeschnappt, weil er ihm als seinem besten Freund nichts davon gesagt hatte. Anfangs dachte er, das legt sich wieder, denn er kannte Leo, der sonst nie lange bockte. Aber diesmal war das anders. Konnte Leo ihn nicht verstehen? Er war schließlich erwachsen und hatte sich vor nichts und niemandem zu rechtfertigen. Anstatt sauer zu sein, sollte er sich gefälligst für ihn freuen, dass er den mutigen Schritt gewagt und Nägel mit Köpfen gemacht hatte.
Hans ging zurück ins Büro, wo Leo immer noch in derselben Haltung am Schreibtisch saß und so tat, als würde er in die Unterlagen, die er in der Hand hielt, vertieft sein. Hans fand dessen Verhalten geradezu lächerlich und setzte sich mit einem lauten Lachen, was Leo abermals zur Weißglut brachte. Die beiden schenkten sich nichts – und es war offensichtlich, dass sich an dem schlechten Verhältnis zwischen ihnen so schnell nichts ändern würde. Beide würden ihre Arbeit machen – nicht mehr und nicht weniger.
Nach drei endlos langen Stunden kam endlich der erlösende Anruf.
„Wir sind unterwegs“, sagte Hans, als er sich die Adresse notiert hatte. Ob er Leo sagen sollte, wohin es ging? Nein, dazu war er zu stolz. Stattdessen überreichte er ihm den Zettel, auf dem die Adresse in Freising stand. Leo sagte nichts, las den Zettel und steckte ihn ein.
Auf der eineinhalbstündigen Fahrt sprachen die beiden kein Wort miteinander. Hans hatte das Radio laut aufgedreht, was Leo eigentlich nicht mochte, aber dieses Mal war er froh darüber. Sie waren in Freising angekommen und näherten sich dem Haus in der Doblerstraße. Hans stieg aus, Leo folgte ihm. Beide behielten die Straße im Auge und griffen zu ihren Waffen. Das fragliche Haus war unscheinbar. Hans klingelte und hielt seine Waffe im Anschlag, ebenso Leo. Die Tür wurde geöffnet und vor ihnen stand ein zweiundvierzigjähriger Mann, hinter dem zwei Männer standen.
„Hiebler und Schwartz von der Kripo Mühldorf“, sagte Hans und beide wiesen sich aus. Hans und Leo dachten nicht daran, ihre Waffen runterzunehmen.
„Endlich, das wurde aber auch Zeit. Sprangl und Eder“, sagte er, ohne dass die beiden sich auswiesen. „Wir dachten schon, ihr hättet euch verfahren oder kommt überhaupt nicht mehr!“ Der junge Kollege mit der dunklen Pilotenbrille reichte Hans eine Reisetasche. „Wir sind froh, dass wir den Mann endlich los sind, das könnt ihr uns glauben.“ Sprangl sah Hans und Leo abschätzend an. Aus seinem Blick konnten die Mühldorfer Kriminalbeamten erkennen, dass er sich ihnen gegenüber überlegen fühlte. „Viel Spaß mit Masberg!“, rief er und grinste.
„Geht das nicht noch lauter?“, maulte Leo und sah sich um. „Reißen Sie sich gefälligst zusammen und unterlassen Sie das dämliche Grinsen!“
Hermann-Josef Masberg hatte Angst, das konnte man ihm ansehen. Hans und Leo hatten einen taffen Mann erwartet, aber vor ihnen stand ein Häufchen Elend, das nichts mit dem Bild eines knallharten Gangsters zu tun hatte. Masberg trug eine altbackene Cordhose, die zu der Trachtenjacke und der Schiebermütze passte. Mit seiner Kleidung sah der Mann vermutlich sehr viel älter aus, als er tatsächlich war. Er hielt eine abgewetzte Aktentasche fest umklammert.
„Geben Sie mir die Tasche“, forderte Hans ihn auf, worauf Masberg heftig den Kopf schüttelte.
„Bitte kommen Sie“, sagte Hans ruhig und nickte Masberg aufmunternd zu. Er griff nach der Reisetasche und drehte sich um. Er ging mit dem Zeugen langsam zum Wagen, Leo blieb dicht bei ihnen. Eigentlich hätten sie erwartet, dass die beiden Kollegen Sprangl und Eder ihnen wenigstens bis zum Wagen Schutz gaben, aber die beiden dachten überhaupt nicht daran. Sie lachten und rauchten – für sie war der Job erledigt.
Hans und Leo waren nervös. Die Straße war für ihre Begriffe viel zu ruhig. Sie setzten Masberg auf die Rückbank, dann setzten sie sich. Leo überließ Hans das Steuer, er war der bessere Fahrer. Hans startete den Motor und zögerte. Eigentlich hätten sie geradeaus fahren sollen, denn die Doblerstraße war eine Einbahnstraße.
„Hier stimmt etwas nicht“, sagte Hans und behielt die Straße im Blick.
„Das sehe ich auch so“, sagte Leo. „Legen Sie sich hin!“, rief er Masberg zu.
Hans legte den Rückwärtsgang ein und wendete in der nächsten Einfahrt. Dann gab er Gas und fuhr gegen die Fahrtrichtung.
Sprangl und Eder lachten.
„Schau dir diese Idioten an! Diese Landeier wissen vermutlich nicht, was eine Einbahnstraße ist!“, lachte Eder und Sprangl stimmte ein.
Nur einen Augenblick später fuhr ein Wagen mit hoher Geschwindigkeit ebenfalls in die falsche Richtung. Das Lachen blieb ihnen im Hals stecken, denn den beiden war sofort klar, dass dieses Fahrzeug hinter dem Zeugen Masberg her war.
3.
Friedrich Fuchs war genervt. Wegen der ständigen Kommentare und Klugscheißereien der Kollegin Struck kam er nur langsam voran. Das Haus mit dem kleinen Grundstück war zwar überschaubar, trotzdem gab es jede Menge zu tun. Wie lange es wohl dauern würde, bis er die Nerven verlor? Das durfte er nicht zulassen, denn er hatte eine Aufgabe, die er zuverlässig erledigen wollte.
Es dauerte zwei Stunden, bis Tatjana endlich begriff, dass Fuchs sehr gut wusste, was er machte. Sie war sogar so weit, ihn für seine Arbeit zu bewundern, was sie ihm gegenüber aber niemals zugeben würde. Sie hatte verstanden, dass sie sich zurückhalten musste, damit der Kollege Fuchs rechtzeitig fertig wurde. Irgendwann funktionierte ihre Zusammenarbeit reibungslos und sie kamen gut voran. Es gab nur noch den Keller, auf den sie keine Lust hatte und den sie großzügig Fuchs überließ. Sie sah sich in dem Haus um und machte sich mit jedem Zimmer vertraut.
Das Haus nahe dem oberbayerischen Garching war abseits gelegen und wurde wohl früher als Austraglerhaus genutzt. Das waren Häuser, die für den Ruhesitz der alten Bauern zur Verfügung standen, die den Hof an den Erben übergaben und hier ihr Auskommen hatten. Der Hof in unmittelbarer Nähe wurde nicht mehr bewirtschaftet und war nicht bewohnt, was für die Polizei und den Kronzeugen sehr gut war. Trotzdem war es schade zu sehen, dass ein weiterer Bauernhof aufgegeben worden war. Die Aussicht war genial. Man konnte von vielen der kleinen Fenster aus die enge Zufahrtsstraße sehr gut einsehen, außerdem gab es nur diese eine Straße. Die nächsten Häuser und Bauernhöfe lagen zwar in Sichtweite, aber nicht direkt nebenan. Die Fenster im Erdgeschoss waren alle mit schönen, schmiedeeisernen Gittern versehen, die Haustür war sehr stabil. Nebenan gab es einen Schuppen, in dem man zwei Autos unterstellen konnte. Als sicherer Unterschlupf für einen Zeugen war dieses Haus geradezu ideal.
Der Kühlschrank war voll, ebenso die Speisekammer. In jedem der Zimmer stand ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl und ein Tisch. Auf den Betten lagen Taschen, in denen sich Kleidungsstücke der Kriminalbeamten befanden. Tatjana runzelte die Stirn, als sie ihre Kleidung erkannte. Wie war das möglich? Nur sie und ihr Lebensgefährte hatten einen Schlüssel für ihre Wohnung. Das war sicher Krohmers Werk! Sobald sie die Möglichkeit hatte, musste sie sich ihn vornehmen, denn das ging zu weit!
Das Wohnzimmer war klein und gemütlich. Außer dem alten Kachelofen gab es eine Couch und einen Fernseher – und einen Internetanschluss, was Tatjana überraschte. Die Küche war sauber und überschaubar. Darin befand sich auch eine Eckbank mit einem rechteckigen Esstisch. Alles Möbel, die schon immer hier waren und perfekt passten. Welche Geschichten dieses Haus mitsamt dem Inventar wohl erzählen konnte? Tatjana schätzte das Haus auf über hundert Jahre, was auch die Stromleitungen belegten, die noch Aufputz lagen. Die alten Schalter waren durch neue ersetzt worden. So schön ruhig gelegen und kuschelig dieses Haus auch war, im Winter würde sie nicht hier sein wollen, denn es gab keine Zentralheizung, sondern nur den alten Kachelofen. Sie öffnete die Schranktür unter der Spüle und entdeckte den Wasserboiler, was sie nicht überraschte. Sie hatte über der kleinen Wanne des lindgrünen Bades ein riesiges Monstrum entdeckt, das für das heiße Wasser zur Verfügung stand. Alles zwar funktionell, aber noch aus uralten Zeiten. Zumindest war die Toilettenschüssel erneuert worden, was aber auch das einzig Neue im Bad war. Noch bevor sie sich Gedanken darüber machen konnte, ob es hier eine funktionierende Abwasserleitung gab, klingelte ihr Handy, das sie vergessen hatte, auszuschalten. Sie erschrak, als sie Leos Nummer erkannte.
„Hat der Chef nicht gesagt, dass wir unsere Handys nicht benutzen dürfen?“, meldete sie sich.
„Wir werden verfolgt, Tatjana. Wir haben den Kronzeugen übernommen, vor dem Haus wurden wir bereits erwartet.“
„Das würde Eberweins Annahme bestätigen, dass es eine undichte Stelle gibt“, folgerte sie sofort aus dieser Information.
„Genau das denken wir auch! Wenn das Haus in Freising nicht sicher war, dann ist es in dem vom Chef geplanten Unterschlupf auch nicht sicher.“
„Da bin ich ganz bei dir! Kommt ja nicht hierher!“ Tatjana sah aus dem Fenster. Sie beobachtete einen Traktor, der ihr schon vor einer Stunde aufgefallen war. Vorhin dachte sie sich noch nichts dabei, aber jetzt sah sie ihn mit anderen Augen. „Das Haus ist nur sicher, wenn niemand davon weiß. Und davon bin ich nicht mehr überzeugt.“ Sie hatte bereits einen Plan, aber dafür durfte der Zeuge nicht hierher kommen.
„Wir werden versuchen, unsere Verfolger abzuschütteln und uns etwas anderes zu überlegen. Ich schalte das Handy wieder aus. Wir werden einen Weg finden, uns zu melden! Informiere Krohmer, dass die Sache völlig schiefläuft und wir auf uns allein gestellt sind. Wir werden alles dafür tun, um den Kronzeugen zu schützen.“
„Gut! Passt auf euch auf!“
„Und du machst keinen Blödsinn, verstanden?“
Tatjana legte auf. Sie dachte nicht daran, einfach von hier zu verschwinden. Sie spürte, dass sie demnächst Besuch bekam – und darauf musste sie sich vorbereiten!
4.
Hans Hiebler hatte sich dafür entschieden, direkt nach München zu fahren, was Leo völlig egal war. Hans war ein sehr guter Fahrer. Auch wenn es sehr schwierig und auch nicht ungefährlich war, schaffte er es, die Verfolger im dichten Münchner Verkehr abzuschütteln.
„Wo sollen wir hin? Hast du eine Idee?“
„Ja, habe ich. Wenn du dir sicher bist, dass wir nicht mehr verfolgt werden, halt irgendwo an.“
„Warum?“ Hans war nicht begeistert, den Vorsprung zu gefährden, indem er eine Pause einlegte. Wenn es nach ihm ginge, würde er ohne Unterbrechung weiterfahren.
„Weil ich überprüfen muss, ob Masberg irgendetwas dabei oder an sich hat, das uns verraten hat.“
„Gute Idee, daran habe ich nicht gedacht.“
Leo wies Hans an, auf die Autobahn A8 zu fahren. Auf einem belebten Rastplatz nach Augsburg fuhr Hans von der Autobahn ab. Sie kamen zügig voran und er war sich sicher, dass sie die Verfolger endlich los waren. Die Kriminalbeamten stiegen aus und baten Masberg auszusteigen. Bis jetzt hatte der Mann kein einziges Wort gesagt. Leo durchsuchte ihn.
„Die Schuhe bitte“, sagte er und Masberg zog sie aus. „Die Aktentasche“, bat Leo, auch wenn Masberg sie nur sehr ungern abgab. Die Tasche war voller Unterlagen, die Leo nur grob durchsah. Er war nicht an deren Inhalt interessiert, das ging ihn nichts an. Er suchte nach einer Wanze, einem Handy oder ähnliches, fand aber nichts. Masberg nahm die Aktentasche sofort wieder an sich und klammerte sich daran fest. Es war offensichtlich, dass diese Tasche sehr wichtig für ihn war. Jetzt nahm sich Leo auch noch die Reisetasche vor, die zusammen mit den Waffen im Kofferraum lag. Hans hatte die Hand an der Waffe und behielt nicht nur die Umgebung, sondern auch Masberg im Auge.
„Alles sauber“, sagte Leo und war beruhigt. „Wir können weiter.“
„Wohin willst du? Was hast du vor?“
Leo verfrachtete Masberg wieder in den Wagen. Als er sich sicher war, dass der sie nicht hören konnte, zog er Hans ins Vertrauen.
„Du erinnerst dich daran, dass ich ein Haus in Pfullingen habe? Ich war dort zwar seit Jahren nicht mehr, aber es steht leer und es wissen nur sehr wenige davon. In Pfullingen sind wir sicher.“ Leo hatte das Haus von einer alten Dame nach einem verzwickten Fall geschenkt bekommen. Zuerst wollte er es nicht annehmen, entschied sich dann aber doch anders. Schon viele Male hatte er vorgehabt, sich darum zu kümmern, aber immer kam etwas dazwischen. Pfullingen lag nahe der Kreisstadt Reutlingen in Baden-Württemberg. Eigentlich hatte er mit diesem Ort überhaupt nichts zu tun und wusste nicht, was er mit dem Haus anfangen wollte. Er bezahlte jedes Jahr die Grundsteuer und sonstige Gebühren, die nicht der Rede wert waren. Mehr machte er nicht. Jetzt erinnerte er sich wieder daran und war froh, dass er es hatte.
„Keine schlechte Idee, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Und was machen wir mit Masberg? Er braucht medizinische Betreuung.“
„Dazu fällt mir jemand ein.“ Leo wählte und hatte seine alte Freundin Christine Künstle am Apparat. Die pensionierte Pathologin war zwar keine Ärztin, kannte sich aber im medizinischen Bereich sehr gut aus. Sie war zuverlässig und verschwiegen, außerdem konnte sie sehr gut mit einer Waffe umgehen, wovon sie den ganzen Kofferraum voll hatten.
„Was ist?“, meldete sich Christine, die gerade ein Seminar vorbereitete, das in einer Woche stattfinden sollte.
„Ich bin es, Leo. Ich brauche deine Hilfe.“ Er berichtete ihr, worum es ging.
„Eigentlich habe ich überhaupt keine Zeit, aber ich helfe dir gerne. Ich mache mich auf den Weg, wir sehen uns in Pfullingen.“ Christine wusste von dem Haus, war aber selbst noch nie dort. Sie hatte Leo damals dazu überredet, es anzunehmen. Warum auch nicht?
„Kannst du bitte Lebensmittel und Waschutensilien einkaufen?“
„Mache ich. Bis später!“
„Das war eine gute Idee mit Christine. In der Aufregung wäre sie mir nicht eingefallen, das muss ich zugeben. – Wen rufst du jetzt an?“
„Wir müssen zuerst unsere Frauen informieren. Es wird ein Leichtes sein, sie ausfindig zu machen. Sie müssen sich in Sicherheit bringen. Und um Tante Gerda müssen wir uns auch kümmern.“
Hans klopfte Leo anerkennend auf die Schulter und lächelte. Das war die erste freundschaftliche Geste seit Monaten. Er war von der Fahrt immer noch aufgewühlt und hätte selbst nicht an diese nicht unwichtigen Details gedacht.
Leo brauchte lange, bis seine Sabine einsichtig war und endlich zustimmte. Sie hatte frei und wollte heute nichts tun, außer schlafen und lesen. Als Journalistin war sie sofort hellhörig geworden, als Leo die schwammigen Gründe nannte, denn nähere Details durfte er ihr nicht nennen.
„Wir haben es mit dem Bottas-Clan zu tun“, gab Leo deshalb zu, um Sabine endlich dazu zu bewegen, zu verschwinden.
„Die Bottas? Das verstehe ich nicht. Was hat die Mühldorfer Kriminalpolizei mit diesen Leuten zu tun?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Bitte tu mir den Gefallen und verschwinde! Alle Einzelheiten erzähle ich dir später.“
„Gut, wie du meinst, obwohl ich deine Sorge für unbegründet halte.“
Leo musste sich um Tante Gerda, seine Vermieterin und Ersatzmutter, keine Sorgen machen. Sie war im Urlaub in Österreich, zu dem sie einer ihrer vielen Verehrer eingeladen hatte. Da der zugestimmt hatte, dass Tante Gerda ihren Hund Felix mitnehmen durfte, nahm sie seine Einladung endlich an. Trotzdem hinterließ Leo eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, denn er wollte kein Risiko eingehen. Hans, der der echte Neffe von Tante Gerda war, hörte jedes Wort mit.
„Tante Gerda macht Urlaub bei einem Mann?“
„Ja. Wir hatten gestern eine heftige Auseinandersetzung, als sie mir ihre Pläne verriet. Ich bat sie, noch zu warten, da ich ihn noch nicht überprüft habe.“
„Das hast du nicht getan?“
„Wie denn? Ich weiß nur, dass es sich um einen Franz handelt. Tante Gerda weigerte sich, mir seinen Nachnamen oder eine Adresse zu geben. Mir ist auch nicht wohl bei der Sache, das kannst du mir glauben. Allerdings ist sie unter den gegebenen Umständen dort besser aufgehoben als Zuhause.“
Hans war zwar auf der einen Seite besorgt, aber auch erleichtert. Sobald die Sache hier zu Ende war, musste er mit seiner Tante ein ernstes Wort reden, denn mit ihren achtundsiebzig Jahren durfte sie nicht so leichtsinnig sein, sie musste besser auf sich aufpassen. Jetzt musste sich Hans um seine Frau kümmern. Er rief Anita an, die sofort verstand, was seine Information bedeutete.
„Mach dir um mich keine Sorgen, Hans, ich kann mich sehr gut schützen.“
„Du sollst dich nicht schützen, sondern untertauchen, hast du mich verstanden? Das ist kein Spaß, Anita! Sagt dir der Bottas-Clan etwas?“
„Du lieber Himmel! Die Bottas? Alles klar, ich bringe mich in Sicherheit, versprochen.“
„Braves Mädchen.“
„Du passt auf dich auf, Hans, hörst du? Ich möchte dich lebend und in einem Stück wiederhaben!“
„Das habe ich dir in Las Vegas versprochen. Und was ich verspreche, das halte ich.“
Leo war fast gerührt, als er Hans reden hörte. Die beiden sprachen sehr liebevoll miteinander. Hans sprach sehr lange mit Anita. Warum beeilte er sich nicht? Leo drängelte.
„Steig endlich ein, wir müssen weiter. Ich traue dem Frieden nicht.“
Hans brauchte sich keine Gedanken machen, denn die Verfolger irrten immer noch in München herum. Der Fahrer fluchte und der Beifahrer telefonierte. Wohin der Zeuge Masberg gebracht wurde, konnten sie nicht ahnen.
5.
„Ich habe eben mit Leo gesprochen. Alles sieht danach aus, als wäre der schöne Plan aufgeflogen“, sagte Tatjana zu Fuchs, der immer noch im Keller beschäftigt war.
„Was soll das heißen?“
„Dass das Haus nicht mehr gebraucht wird. Zumindest nicht für den Zeugen.“
„Ich verstehe immer noch nicht. Was haben Sie vor?“
„Mir ist ein Traktor aufgefallen, der mindestens zwei Mal am Haus vorbeigefahren ist. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, aber ich fürchte, dass wir beobachtet werden. Ich würde gerne so tun, als würde alles nach Plan laufen.“
„Sie denken an eine Falle?“
„Warum nicht? Wären Sie dabei?“
„Ich stehe zwar im Polizeidienst, aber bin kein aktiver Polizist. Wie stellen Sie sich das vor?“
„Keine Ahnung! Ich wollte Sie lediglich über die aktuelle Lage informieren. Sie können selbstverständlich selbst entscheiden, ob Sie dabei sein wollen, oder nicht. Ich werde den Chef informieren.“
„Bevor Sie mit Herrn Krohmer sprechen, möchte ich Ihnen etwas zeigen“, sagte Fuchs und ging in den angrenzenden Kellerraum, der als Vorratslager für Kohle und Holz genutzt wurde. Fuchs zeigte auf eine kleine Nische, in der mehrere Vorratsgläser standen. Wie alt die wohl waren? „Hinter diesen Gläsern fand ich diese Waffe“, sagte Fuchs und hielt ihr einen Beutel vor die Nase, den er aus seiner Jackentasche zog.
Tatjana besah sich den Inhalt genauer.
„Die ist relativ neu und kann dort noch nicht lange liegen“, sagte sie und drehte den Beutel in dem wenigen Licht, das ihnen zur Verfügung stand.
„Das sehe ich ähnlich. Wenn ich mich nicht irre, werden diese Waffen erst seit wenigen Jahren hergestellt. Ich fand hinter diesem Holzstapel auch zwei Schachteln Munition, die zu dieser Waffe passen.“
„Das untermauert meine Vermutung. Dieses Versteck ist aufgeflogen.“
„Das kann nicht sein!“, rief Krohmer erschrocken. Er hatte dieses Haus selbst ausgewählt und befand es als absolut sicher.
„Es ist aber so! Fuchs ist meiner Meinung.“
„Der Zeuge darf unter keinen Umständen in dieses Haus gebracht werden!“
„Das versteht sich von selbst! Leo und Hans haben sofort reagiert. Der Zeuge wird jetzt an einem anderen Ort untergebracht.“
„Wohin bringen sie ihn?“
„Es ist besser, wenn niemand davon weiß.“
„Sie meinen….?“
„Ja, es gibt eine undichte Stelle, Sie lagen mit Ihrer Vermutung absolut richtig.“
Krohmer war erschrocken. Das alles nahm Dimensionen an, die er überhaupt nicht mochte. Eberwein hatte ihm diese Aufgabe als Spaziergang verkauft!
„Brechen Sie ab, Frau Struck.“
„Nein, das werde ich nicht tun, ich habe eine ganz andere Idee.“
6.
Die Grießstraße im schwäbischen Pfullingen war um diese Uhrzeit sehr belebt.
„Das da vorn ist es!“, rief Leo und zeigte auf ein Haus, das durch die mangelhafte Pflege der letzten Jahre üppig eingewachsen war. „Fahr in die Einfahrt, ich öffne das Garagentor.“ Und schon sprang er aus dem Wagen. Das Tor war nicht abgeschlossen. Hatte er überhaupt einen Schlüssel dafür?
Hans fuhr in die enge Garage, die noch zu Zeiten gebaut worden war, als die Fahrzeuge wesentlich schmäler waren. Er zwängte sich aus dem Wagen und öffnete die hintere Wagentür so weit als möglich, um Masberg aussteigen zu lassen. Da Masberg zwar klein, aber sehr korpulent war, gestaltete sich das Aussteigen schwieriger als gedacht. Leo hatte sich die Tasche aus dem Kofferraum geschnappt und ging zur Tür. Zum Glück hatte er den Haustürschlüssel immer bei sich. Warum das so war, wusste er selbst nicht, aber das war jetzt egal. Er stellte die Tasche ins Haus und holte die Waffen, während sich Masberg immer noch aus dem Wagen quälte. Ihn behinderte nicht nur die Enge, sondern zusätzlich auch die Aktentasche, die er immer noch fest umklammert hielt. Beim Aussteigen hätte er beinahe die Schiebermütze verloren, die er rasch wieder zurechtrückte.
Die Waffen waren endlich im Haus. Wie es wohl im Inneren aussah? Die gute Frieda Votteler, die ihm seinerzeit das Haus einfach geschenkt hatte, war eine Sammlerin und konnte offenbar nichts wegschmeißen. Ein einziges Mal hatte er versucht, Ordnung in das Chaos zu bekommen, aber das war ihm nicht gelungen.
Die Luft im Haus war stickig und er öffnete zwei Fenster. Die frische Luft strömte in den Raum. Leo sah sich um. Wie gemütlich hier alles war, hatte er längst vergessen. So ähnlich wie hier hatte es früher bei seiner eigenen Großmutter auch ausgesehen und er hatte es geliebt. Er drehte den Wasserhahn auf und schaltete das Licht an. Obwohl Leo regelmäßig die erforderlichen Zahlungen leistete, war er erstaunt, dass alles funktionierte. Prima!
„Nicht schlecht“, sagte Hans, nachdem er die Garage und die Haustür hinter sich und Masberg geschlossen hatte und sich umsah. „Als du mir davon erzählt hattest, habe ich mir eine heruntergekommene Bruchbude vorgestellt. Aber das hier ist ein schmuckes Einfamilienhaus, das viel zu schade ist, es leer stehen zu lassen. Wann warst du zum letzten Mal hier?“
„Das ist ewig her.“ Leo sah aus dem Fenster. In Erinnerungen zu schwelgen war nicht sein Ding, vor allem nicht während der Arbeit. Die Straße war auf den ersten Blick sauber, auch wenn er sich sicher war, dass einige der Nachbarn gesehen hatten, was hier vor sich ging. Sie gingen nach oben und Leo wies Masberg ein Zimmer zu. Der nickte nur und setzte sich in dem kleinen Schlafzimmer auf den Stuhl. Leo öffnete das Fenster.
„Bitte vermeiden Sie es, sich am Fenster zu zeigen.“
Wieder nickte Masberg, der noch kein einziges Wort gesagt hatte.
„Sie brauchen keine Angst zu haben, hier sind wir sicher. Niemand weiß von dem Haus.“
Leo ging wieder nach unten. Hans war bereits dabei, die Waffen zu verteilen, wobei ihm Leo half. Für die Munition wählten sie im Erdgeschoss den Wohnzimmertisch, im Obergeschoss die Anrichte vor dem Fenster im Flur. Den Keller sparten sie sich. Dort gab es nur wenige Fenster mit kleinen Lichtschächten, die Leo später überprüfen musste.
Sie waren fertig. Hans suchte in den Schränken nach Kaffeepulver, fand aber nur das Filterpapier, mehr nicht.
„Ich hoffe, dass Christine an den Kaffee denkt, sonst kann ich echt lästig werden“, sagte er und setzte sich an den Tisch der kleinen Eckbank. „Hat Masberg etwas gesagt?“
„Nein.“
„Der Mann ist sehr still und das gefällt mir nicht. Wir sollten versuchen, ihn zum Sprechen zu bringen.“
„Das überlassen wir Christine, die ist darin sehr geschickt. Wo bleibt sie denn?“ Leo war es unangenehm, hier mit Hans zu plaudern, während er immer noch sauer auf ihn war. Vorhin in Gefahr war eine Kommunikation unvermeidlich, aber die war jetzt überflüssig. Leo wurde nervös. Er konnte nicht länger mit Hans in einem Raum sein und besah sich deshalb das ganze Haus und schwelgte in Erinnerungen an die frühere Besitzerin Frieda Votteler, die mit ihrem Ziehsohn und der neuen Familie in Costa Rica lebte. Wie es ihr wohl ging?
Hans saß am Küchentisch und schloss die Augen. Er musste sich mit den normalen Geräuschen des Hauses und der Umgebung vertraut machen. Je mehr er sich davon verinnerlichte, desto sicherer fühlte er sich. Er hörte eine Autotür, öffnete die Augen, sprang auf und sah aus dem Fenster. Der hellgrüne Kleinwagen in der Einfahrt kam ihm bekannt vor, Christine war endlich hier!
„Was ist los?“ Leo war auf dem Weg in den Keller, um dort die Fenster zu kontrollieren. Auch er hatte eine Wagentür gehört und rannte sofort nach oben.
„Es ist Christine!“, sagte Hans und steckte die Waffe wieder weg. „Komm rein!“, begrüßte er Christine und verschloss die Tür sofort wieder.
„Was ist denn das für ein läppischer Empfang?“, schimpfte Leos alte Freundin. Sie stellte die vielen Einkaufstüten ab und umarmte Leo, dann auch Hans.
„Endlich bist du hier“, flüsterte Hans und hielt sie fest umschlungen.
„Das höre ich gerne! Ich kann mich nicht erinnern, wann ein Mann das zum letzten Mal zu mir gesagt hat“, lachte sie und kniff Hans in die Wange.
Christine und Hans verstauten die Vorräte im Kühlschrank und in den Schränken, während Leo nach oben ging und die Waschutensilien verstaute. Er musste lachen, als er bemerkte, dass Christine sogar an sein Rasierwasser gedacht hatte! Sie war einfach ein Schatz, auf sie konnte er sich blind verlassen!
Als Hans das Kaffeepulver sah, lächelte er. Sein Tag war gerettet!
„Wie ist das Verhältnis zwischen dir und Leo? Hat er sich wieder beruhigt?“, fragte Christine, die um die Probleme wusste.
„Wir nähern uns langsam an, aber ich fürchte, der sture Bock ist immer noch sauer. Ja, ich habe ihm nicht erzählt, dass ich heiraten möchte und ich glaube, das musste ich auch nicht.“
„Kannst du nicht verstehen, dass ihn das gekränkt hat? Ich an seiner Stelle wäre auch sauer. Du bist sein bester Freund!“
Hans zuckte nur mit den Schultern. Der Duft von Kaffee durchströmte das Haus. Leo kam in die Küche und setzte sich. Angelockt von dem verführerischen Duft näherte sich nun auch Masberg, der auch jetzt seine Aktentasche bei sich trug.
„Darf ich vorstellen? Das ist Hermann-Josef Masberg. Und das ist Frau Dr. Künstle, die sich bereiterklärt hat, uns zu helfen.“
Masberg sah die fremde Frau enttäuscht an. Die Alte sollte für seine Sicherheit garantieren? Ihr sollte er sein Leben anvertrauen? Das war ja lächerlich! Wussten die Kriminalbeamten denn nicht, mit welchem Gegner sie es zu tun hatten?
Alle konnten fühlen, was Masberg dachte.
„Frau Dr. Künstle wird Sie ärztlich versorgen“, versuchte Leo zu erklären.
Masberg drehte sich um und war dabei, wieder zu gehen. Aber das stieß nicht nur Christine sehr sauer auf.
„Sie bleiben gefälligst hier!“ Sie ging zu ihm und hielt ihm am Arm fest. „Was erlauben Sie sich eigentlich, so abfällig mit mir umzugehen?“, schrie sie ihn an.
„Entschuldigung“, sagte Masberg und alle erschraken vor der hohen Fistelstimme des Mannes.
„Was ist mit Ihrer Stimme los?“, wollte Leo wissen.
„Frag doch nicht so blöd, Leo!“, sagte Christine und schüttelte den Kopf. „Der Mann hatte früher eine Kehlkopfentzündung, eine Operation am Kehlkopf oder Ähnliches. Irgendetwas ist schiefgelaufen.“ Sie sah Masberg an, der daraufhin nickte.
„Eine Operation“, sagte er verbittert, denn der Operateur hatte ihm damals nicht nur die Tumore entfernt, sondern das ganze Leben ruiniert. Es hatte sich herausgestellt, dass der Arzt damals völlig überlastet war und eine Operation nach der anderen durchführte, was Masberg auch nicht half. Die Stimmbänder waren ruiniert und daran änderte auch das Schmerzensgeld nichts, mit dem seine Eltern von der Klinik außergerichtlich abgefunden wurden.
„Wir werden uns jetzt alle in Ruhe unterhalten, schließlich sitzen wir jetzt alle im selben Boot. Niemand wird Sie noch einmal auf Ihre Stimme ansprechen, das garantiere ich Ihnen. Setzen wir uns?“
Masberg nickte. Die Operation hatte er mit vierzehn Jahren und seitdem hatte er mit dieser Stimme zu kämpfen. Natürlich war er seit damals Hohn und Spott von allen Seiten ausgesetzt, was ihn zum Einzelgänger machte. Auch als Erwachsener wurde ihm das Leben mit anderen nicht leichtgemacht. Er kannte die vielen Witze und dummen Sprüche längst auswendig. Aber viel schlimmer waren die Blicke und das unterdrückte Lachen, sobald er den Mund aufmachte. Mit Frauen hatte er sich nie abgegeben. Ihm war klar, dass eine Frau ihn mit dieser Stimme niemals haben wollte, weshalb er sich einer Illusion in dieser Richtung nicht hingab. Nach dem Studium zum Betriebswirt fand er eine Anstellung bei einem Autozulieferer. Als die Mode aufkam, Telefon- und Videokonferenzen einzuführen, war er geliefert. Nun lachten nicht nur die Kollegen über ihn, sondern auch die ausländischen Geschäftspartner, unter denen sich nur die Chinesen einigermaßen zusammenreißen konnten. Allein wegen seiner Stimme wurde er nicht befördert. Das sprach niemand laut aus, lag aber auf der Hand. Damit hätte er sich vielleicht arrangieren können, aber nicht damit, dass er bei jeder Gelegenheit von den Kollegen gemobbt wurde. Irgendwann hatte er genug davon und bewarb sich bei anderen Firmen. Und dann meldete sich plötzlich ein Stefan Bottas bei ihm. Um wen es sich bei ihm handelte, wusste er damals noch nicht. Das Bewerbungsgespräch in einer Bar war sehr ungewöhnlich, trotzdem ließ er sich darauf ein. Stefan Bottas und sein Bruder Franco sprachen ihn direkt auf seine Stimme an. Als er ihnen die Gründe erklärte, nickten sie nur und machten ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Die Bottas-Brüder hatten ihm versprochen, ihn nie wieder auf seine Stimme anzusprechen und daran hatten sie sich gehalten. Auch die anderen in der Firma verloren niemals auch nur ein Wort darüber, worüber er sehr dankbar war. Es dauerte nicht lange, bis Masberg begriff, welchen Geschäften die Bottas-Brüder und deren Familie nachgingen: Drogen, Prostitution, Menschenhandel und Geldwäsche waren die Haupteinnahmequellen der Bottas. Anfangs hatte er Skrupel, aber die waren durch den professionellen und respektvollen Umgang mit ihm schnell beseitigt – und das lag natürlich auch an seinem Gehalt, das stetig anstieg. Alles lief viele Jahre gut. Auch wenn ihm einige Geschäfte sauer aufstießen, machte er seinen Job. Er fragte nicht nach und hielt sich im Hintergrund, denn er hatte mitbekommen, wie mit Angestellten umgegangen wurde, die aufmuckten. Dann lernte er eine Frau kennen, die in einem der Container im Hafen von Rotterdam angeliefert wurde: Zisan. Sie war ihm sofort aufgefallen, aber wagte es nicht, sich ihr zu nähern. Wie üblich wurden die Frauen in einem Haus in Augsburg einquartiert, ausgebildet und von dort an diverse Bordelle und reiche Männer verkauft. Masberg konnte sich noch gut daran erinnern, wie er ihre Nähe suchte. Natürlich hatte Zisan seine Blicke bemerkt und sprach ihn eines Tages auf Englisch an, was ihn überraschte. Normalerweise beherrschten die Frauen nur ihre jeweilige Muttersprache, aber Zisan war nicht nur sehr hübsch, sondern auch gebildet. Er antwortete ihr und beobachtete ihre Reaktion auf seine Stimme. Sie war nicht erschrocken oder lachte über ihn, sondern lächelte ihn an. Dann kam dieser schreckliche Tag, der alles veränderte. Stefan Bottas sah sich die Frauen an, wie er es immer tat. Und dabei eskalierte die Situation. Zisan war aufsässig und wehrte sich. Sie biss so fest zu, dass Stefans Finger bluteten. Er musste sogar genäht werden. Was dieser Vorfall bedeuten würde, war Masberg klar: Zisan musste verschwinden. Masberg nahm all seinen Mut zusammen und bat Stefan Bottas darum, ihm Zisan zu verkaufen.
„Du willst was? Diese Schlampe kaufen? Hast du sie noch alle?“ Stefan lachte. „Du hast dich doch hoffentlich nicht in diese Schlampe verguckt, Hermann? Vergiss die Frau! Sie ist nichts für dich, glaube mir. Du hast doch gesehen, was sie getan hat, oder? Vergiss die Frau, mit ihr würde es doch nur Ärger geben. Sieh dich nicht unter der Ware um, such dir ein anständiges Mädl!“ Diese Worte bohrten sich wie Pfeile in seinen Magen. Seitdem hatte sein Job und damit das Verhältnis zu der Familie Bottas einen Knacks bekommen. Trotzdem machte er weiter. Was hätte er auch anderes tun können? Ihm war im Laufe der Jahre klargeworden, dass es bei dem Bottas-Clan keine Kündigungen gab. Wenn man sich für den Job entschied, dann für immer – oder zumindest so lange, bis man tot war.
Vor sechs Wochen hatte er ein Gespräch zwischen Stefan Bottas und dessen Cousin Patrick belauscht. Die beiden unterhielten sich über Zisan. Patrick erzählte Stefan lachend, was er mit der Frau gemacht hatte: Er hatte ihr die Kehle durchgeschnitten und sie in der Donau versenkt. Wo genau, hatte er nicht erfahren können. Diese Information hatte ihm das Herz zerrissen. Obwohl ihm klar war, dass Zisan tot war, gab ihm diese Information den Rest. Der Hass vor allem auf Stefan und Patrick Bottas war unermesslich. Kurz darauf wurden Stefan und Franco Bottas verhaftet. Als er selbst vernommen wurde, machte ihm der zuständige Oberstaatsanwalt ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte: Entweder ging auch er ins Gefängnis, oder er arbeitete mit der Polizei zusammen. Ins Gefängnis gehen wollte er nicht, da würde er sicher nicht lange überleben. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie man mit einem wie ihm umging. Nein, dann würde er lieber mit der Polizei kooperieren, auch wenn er wusste, dass er sich damit in Lebensgefahr begab. Außerdem bekam er die einmalige Gelegenheit, sich wegen des Mordes an Zisan zumindest an Stefan Bottas zu rächen.
„Herr Masberg?“, wiederholte Christine, da der Mann keine Antwort gab. Er schien in Gedanken versunken zu sein. War der Typ noch bei sich? Lohnte es sich überhaupt, dass man diesen Aufwand betrieb, um ihn zu schützen? Bevor es weiterging, musste sie sich den Mann vornehmen.
Masberg nickte nur und setzte sich. Der Kaffee war fertig und Hans schenkte ein, nachdem er die Tassen alle vorsorglich ausgespült hatte.
„Wer sind Sie und was macht Sie so wertvoll?“
„Ich bin ein Niemand, der sich für den falschen Job entschieden hat.“ Masberg erzählte ganz grob von den Geschäften des Bottas-Clans. Masbergs Aufgabe war es, alle Geschäftsbeträge zu erfassen und sie regelmäßig den Geschäftsführern Franco und Stefan Bottas zu melden. Es gab keine zweite Buchführung, wie sie oft in Krimis vorkam. Er rechnete alle illegalen Geschäfte sauber ab, als ob es um ganz normale Transaktionen ginge. Dann wurde gemeinsam entschieden, durch welche Kanäle diese Gelder gewaschen werden konnten, worin sich Masberg als sehr erfinderisch entpuppte. Niemand kontrollierte die Bottas-Familie. Und wenn doch, dann fand man einen Weg, eine Kontrolle aus der Welt zu schaffen. Masberg wollte nie etwas mit den Geschäften an sich zu tun haben, bekam aber trotzdem zwangsläufig alles mit. Das lag an seinen Besuchen in diversen Einrichtungen der Bottas und vor allem an Franco Bottas, der keine Hemmungen hatte, in seinem Beisein offen über die Beseitigung von lästigen Personen zu sprechen.
Alle hörten aufmerksam und fassungslos zu.
„Warum haben Sie mitgemacht? Sie machen auf mich einen vernünftigen Eindruck und gehören eigentlich schon rein optisch nicht zu Kriminellen“, sagte Christine.
„Ich bekam das Jobangebot gerade zum richtigen Moment. In der vorherigen Firma wurde ich gemobbt und jeder Arbeitstag war eine Qual für mich. Bis ich gemerkt habe, worum es bei den Geschäften der Familie Bottas wirklich ging, war es zu spät.“
„Sie hätten doch einfach kündigen und sich einen neuen Job suchen können!“
„Sei doch nicht so naiv, Christine!“, rief Leo. „Wenn man einmal dabei ist, dann kommt man da nicht mehr lebend raus. Loyalität wird bei solchen Leuten großgeschrieben. Wird man abtrünnig, ist man eine zu große Gefahr für die Bosse.“
Masberg nickte. Offenbar war der lange Schwabe nicht so dumm, wie er ihn eingeschätzt hatte.
„Ich verstehe“, sagte Christine, die zum Glück als Pathologin nicht so oft direkten Kontakt zu Verbrechern hatte.
Hans interessierten die Details von Masbergs Arbeit und der Familie Bottas nicht wirklich, Leo ging es ähnlich. Das zu beurteilen war nicht ihre Aufgabe. Es war ihr Job, den Mann zu schützen und ihn zu Prozessbeginn den Behörden zu übergeben.
„Wir sollten zusehen, dass wir die Aufgaben und den Ablauf in diesem Haus regeln, woran sich alle zu halten haben. Wir wissen nicht, wie lange wir hier sind. Ich schlage vor, dass wir uns darauf einstellen, dass es sich um Wochen handeln kann.“
„Wochen? Was ist mit meinem Seminar?“, rief Christine erschrocken.
„Das kannst du vergessen!“
„Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nicht zugesagt. Unter diesen Umständen kann ich leider nicht bleiben.“ Christine machte Anstalten, aufzustehen.
„Wir können dich nicht mehr gehen lassen, Christine. Niemand außer uns weiß von dem Versteck hier und dabei muss es bleiben.“
„Soll das heißen, dass ihr mir nicht vertraut? Bin ich eine Tratschbase, die solch wichtige Dinge einfach ausplaudert?“
„Das hat Leo nicht gesagt. Trotzdem bin auch ich der Meinung, dass du hierbleiben musst. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du uns verstehen.“ Hans dachte nicht daran, Christine gehen zu lassen. Auch wenn die Gefahr sehr gering war, dass sie plauderte, war das Risiko trotzdem zu hoch. Sie waren hier sicher und dabei musste es bleiben. Außerdem brauchte Masberg ärztlichen Beistand. Wie sollten sie den ohne Christine bewerkstelligen?
„Meinetwegen! Dann werde ich das Seminar jetzt absagen.“
„Auch das können wir nicht erlauben, Christine. Gib uns bitte dein Handy.“
Jetzt begriff Christine, dass die Kriminalbeamten, die ihr voll und ganz vertrauten, es ernst meinten. Sie reichte Leo ihr Handy und lächelte. Sie würde sich fügen und alles dafür tun, dass der Zeuge sicher war, schließlich konnte man sich auf sie verlassen.
„Hans und ich werden uns draußen nicht sehen lassen, dasselbe gilt natürlich für Sie, Herr Masberg. Das schließt die Fenster mit ein, die ab sofort für uns tabu sind. Christine ist ab sofort die einzige, die die Fenster öffnet und schließt, dasselbe gilt natürlich auch für die Haustür. Christine darf sich draußen frei bewegen. Jeder soll sehen, dass du hier wohnst. Ich schlage vor, dass du auf Nachfragen angibst, das Haus gemietet zu haben. Die Nachbarn werden sich schnell an deinen Anblick gewöhnen, deshalb ist ein Einkauf völlig normal und fällt nicht weiter auf.“
„Sobald es nötig wird, Licht einzuschalten, werden die Jalousien geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Dasselbe gilt auch für den Fernseher. Sobald der eingeschaltet wird, ist das Fenster verrammelt“, fügte Hans hinzu. „Immer einer von uns übernimmt die Nachtwache. Ich melde mich für die erste Schicht freiwillig.“
„Sind alle Einzelheiten besprochen?“
„Von meiner Seite aus gibt es keine weiteren Fragen“, sagte Christine. Sie war zwar sauer, verstand aber die Argumente von Leo und Hans. Wäre sie an deren Stelle gewesen, würde sie ähnlich handeln. Auch Masberg nickte. Er hatte zwar noch nicht ganz verstanden, dass er auf unbestimmte Zeit hier eingesperrt war, aber dass die Polizisten offensichtlich ihren Job verstanden, hatte er kapiert. Ein Stück seiner Anspannung fiel ab, aber noch nicht alles. Noch hatte er riesige Angst davor, dass ihn der Bottas-Clan hier finden und dann töten würde.
Die Familie Bottas war weit davon entfernt, auch nur zu ahnen, wo sich Masberg aufhalten könnte. Luis Bottas, der Jüngste der Familie, hatte seit der Verhaftung der Brüder die Geschäftsleitung übernommen. Neben ihm gab es noch die Schwester Anna, sowie unzählige Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Insgesamt bestand die Familie aus fast dreißig Personen, die nicht nur in die engeren Geschäfte eingeweiht waren, sondern Teilbereiche auch führten. Drei Familienmitglieder waren Juristen und somit war es selbstverständlich, dass sie als Anwälte für die Familie arbeiteten. Bruno Bottas war der Hauptanwalt der Familie. Der zweiundvierzigjährige war sehr erfahren und kümmerte sich um die unangenehmsten juristischen Angelegenheiten, zu denen nun auch die Verteidigung von Franco und Stefan Bottas gehörte. Masberg war der Einzige in der Führungsebene, den sie jemals außerhalb suchten, denn niemand der Bottas-Familie war imstande, die umfangreiche Buchhaltung zu leiten. Darüber hinaus gab es etwa siebzig Personen, die sich um den reibungslosen Ablauf der Geschäfte, den Personenschutz und um kleinere Aufgaben kümmerten. Mehr Personal brauchte es nicht, um die Millionenumsätze und den damit verbundenen Aufwand zu bewältigen. Die Familie Bottas hatte es sich angewöhnt, mit entsprechenden Schmiergeldern zu arbeiten, was sich immer bewährt hatte. Auch seit der Verhaftung von Franco und Stefan waren hohe Summen geflossen, um die Gerichtsverhandlung irgendwie noch zu verhindern.
Luis Bottas war wütend, als seine Cousins Patrick und Olaf vor ihm standen, die ihm eigentlich Masberg bringen sollten.
„Was soll das heißen, dass Masberg verschwunden ist?“
„Die Polizisten haben ihn wie vereinbart in Freising übernommen. Wir warteten vor dem Haus, wie du uns gesagt hast. Aber dann ist das Auto der Polizisten entkommen.“
„Wie war das möglich? Der Plan hätte nie schiefgehen können! Das Auto hätte an euch vorbeifahren müssen. Ihr hättet den Wagen nur stoppen und Masberg übernehmen müssen!“ Luis Bottas schrie die beiden an.
„Wir haben nicht damit gerechnet, dass der Wagen umdreht und entgegen der Fahrtrichtig abhaut.“
„Verdammter Mist! Warum seid ihr ihnen nicht gefolgt?“
„Das haben wir getan, aber im Münchner Berufsverkehr haben wir sie verloren.“
„Ihr hattet es mit zwei Provinzpolizisten zu tun und habt euch wie Anfänger vorführen lassen!“
„Wenn du mich fragst, sind das keine Anfänger, sonst hätten sie uns nicht abschütteln können. Der Fahrer war sehr geschickt, davon waren auch wir überrascht.“ Olaf Bottas war überzeugt davon, dass er richtig lag.
„Blödsinn! Wir haben es mit einfachen Landpolizisten zu tun! Verschwindet und lasst mich allein!“ Luis musste sich beruhigen und öffnete die Schublade seines Schreibtisches. Dort entnahm er ein silbernes Etui mit dem Koks, das er nur heimlich nahm, denn seine Familie durfte nichts davon wissen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man die Ware, mit der man handelte, selbst nicht anfasste. Aber das war Luis egal. Anfangs war er nur neugierig gewesen und liebte die Wirkung des Kokains, seit einigen Jahren war er davon abhängig. Inzwischen war es so, dass er bei der kleinsten Aufregung darauf zurückgreifen musste und es nicht mehr ohne ging. Wie lange er den Bezug und den Gebrauch des Kokains noch vor der Familie verheimlichen konnte, stand in den Sternen. Erst vor ein paar Tagen platzte einer seiner Cousins einfach ins Büro, als er gerade eine Line zog. Es wurde brenzlig und gefährlich, denn wenn das herauskäme, wäre er als Teil des Unternehmens nicht mehr tragbar – ganz zu schweigen von der vorübergehenden Geschäftsführung, die ihm während der Abwesenheit der älteren Brüder Stefan und Franco anvertraut wurde.
Mit einer seiner zahllosen Kreditkarten machte er rasch eine perfekte Linie auf dem Deckel des Etuis und zog sich das weiße Pulver mit dem silbernen Röhrchen, das er ebenfalls in dem Etui aufbewahrte, in die Nase. Mit dem Finger wischte er die letzten Spuren vom Deckel und verteilte es auf dem Zahnfleisch. Er lehnte sich zurück und atmete tief durch. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. Auch wenn die Abstände zwischen den Lines immer geringer wurden, genoss er das wohlige Gefühl in seinem Körper. Das Etui war rasch verstaut. Jetzt fühlte er sich dem bevorstehenden Telefonat gewachsen.
„Du hast versichert, dass bei dem Plan nichts schiefgehen kann!“, schrie Luis aufgebracht. Wie er wohl ohne das Kokain reagiert hätte?
„Das war eine todsichere Sache! Was ist passiert?“
„Sag du es mir! Die Dorfbullen hätten unseren Leuten direkt in die Arme laufen müssen. Aber sie haben den Braten gerochen und sind davon. Finde heraus, wo sich Masberg aufhält!“
„Ich werde es versuchen.“
„Nein, nicht nur versuchen. Du wirst uns den Aufenthaltsort nennen, und zwar schnell! Gestern hast du gesagt, dass die Gerichtsverhandlung für nächste Woche Montag angesetzt ist. Uns rennt die Zeit davon!“ Luis hatte aufgelegt. Er betete, dass der Informant seinen Job erledigte, für den er großzügig bezahlt wurde. Wenn nicht, würden die Wanzen vielleicht diese Arbeit erledigen müssen. Es war ein kluger Schachzug seinerseits gewesen, diese zu platzieren. Stefan und Franco waren sehr stolz auf ihn, als er ihnen bei einem Besuch davon erzählt hatte. Luis wusste, dass er als kleiner Bruder selten ernstgenommen wurde, aber mit dieser Aktion bekam er von seinen älteren Brüdern den Respekt, den er verdiente. Und jetzt, wo Masberg entkommen war, stand er erneut wie ein unfähiger Trottel da! Stefan und Franco durften davon nichts erfahren.
Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor vierzehn Uhr. In ein paar Minuten würde Bruno Bottas anrufen, der als Anwalt im ständigen Kontakt mit den Brüdern stand. Sollte er nicht wenigstens ihm die Wahrheit sagen?
Er griff in die Schublade und nahm erneut das silberne Etui an sich…