Leo Schwartz… und der Brückenwerfer
Ein Brückenwerfer versetzt Altötting und die Umgebung in Angst und Schrecken. Es werden nur ungefährliche Gegenstände geworfen, wofür Andreas Hegel verantwortlich ist. Dann gibt es einen tödlichen Unfall, verursacht durch abgeworfene Pflastersteine. Andreas ist wütend. Die Pflastersteine kamen nicht von ihm. Wer ahmt ihn nach?
Die Brückenwürfe waren für Andreas nur der Anfang. Der Zahltag für die, die Schuld an seinem Schicksal tragen, hat begonnen…
1.
Das Unglück war für den jungen, erst 21-jährigen Fahranfänger Patrick Ziegler nicht mehr abzuwenden. Irgendetwas schlug mit einem ohrenbetäubenden Lärm auf die Windschutzscheibe, wodurch er die Kontrolle verlor. Sein Wagen überschlug sich mehrfach und blieb auf dem Dach liegen. Patrick konnte nicht reagieren, die Abläufe liefen für ihn viel zu schnell ab. Von dem, was danach geschah, bekam er nichts mehr mit, er verlor das Bewusstsein.
Carmen Alramseder war wie jeden Morgen sehr früh unterwegs. Es war noch nicht einmal halb vier und die sternklare Nacht des kalten Novembers zeigte sich durch den Vollmond von ihrer schönsten Seite. Sie mochte die Nacht, da sie sehr viel friedlicher war, als die hektischen Tage, die von gestressten, meist übellaunigen Menschen dominiert wurden. Auch deshalb mochte sie ihren Job in der Großbäckerei in Eggenfelden, in der sie gerne die Nachtschicht übernahm und die vor einer halben Stunde zu Ende war. Wie immer war nicht viel los auf den Straßen und sie fuhr mit ihrem neuen Wagen gemächlich dahin. Sie hatte es nicht eilig. Auch der Wagen vor ihr schien es nicht eilig zu haben. Doch dann änderte sich auf der B12 kurz nach der Ausfahrt Altötting alles. Sie war schockiert, als der Wagen vor ihr plötzlich schlitterte und von der Fahrbahn abkam. Sofort stieg sie auf die Bremse und sah fassungslos zu, wie der Wagen durch die Luft flog und sich dann mehrfach überschlug. Ihr wurde schlecht und sie begann zu zittern. Noch niemals zuvor hatte sie einen Verkehrsunfall so nahe miterlebt. Was sollte sie jetzt tun? Nachdem sie die Warnblinkanlage eingeschaltet hatte, stieg sie aus und sah sich um. Außer ihr war weit und breit niemand zu sehen. Dann rannte sie zu dem Wagen, der an der Böschung liegengeblieben war. Mit aller Kraft versuchte sie, die Tür zu öffnen, aber es gelang ihr nicht. Dann stand plötzlich ein Mann an ihrer Seite und half ihr. Wo kam der auf einmal her? Gemeinsam schafften sie es, die Wagentür zu öffnen. Der Fahrer hing kopfüber im Sicherheitsgurt und rührte sich nicht.
„Ich schneid ihn los,“ sagte der Mann. Carmen verstand kein Wort und nickte nur.
Es roch nach Benzin.
„Schnell!“ rief sie hektisch, als sie begriff, was der Benzingeruch zu bedeuten hatte. Sie half mit all ihrer Kraft mit, den Fahrer aus dem Wagen zu ziehen. Ein weiterer Helfer kam hinzu. Irgendwie gelang es den dreien, den bewusstlosen Fahrer in Sicherheit zu bringen. Dann gab es eine ohrenbetäubende Explosion. Der Schein war grell und blendete alle. Der Boden bebte.
Für einen Moment vernahm Carmen nichts mehr, sondern sah nur in den Schein des Feuers, der alles um sie herum erhellte. Sie konnte nicht fassen, was passierte. War das real oder träumte sie? Dann hörte sie Sirenen. Es dauerte nicht lange, bis sich um sie herum eine Hektik verbreitete, die sie nur langsam begriff.
Carmen und die beiden Männer saßen an einem der Rettungswagen und sahen zu, wie der Verletzte von den Rettungskräften versorgt wurde. Würde er es schaffen? Hatten sie ihn retten können? Dann kam die Polizei und sie beantwortete deren Fragen. Während Carmen sprach, wurde sie sich der Gefahr bewusst, in die sie sich begeben hatte. Sie hätte verdammt nochmal sterben können! War sie zu übermütig gewesen? Die beiden anderen Helfer und die Polizei lobten sie wegen ihres Mutes, einige klopften ihr anerkennend auf die Schulter. Carmen konnte nicht glauben, was sie sich eben getraut hatte, sie war doch sonst nicht so mutig. Sie schilderte dem Polizisten immer wieder, wie es aus ihrer Sicht zu dem Unfall kam, obwohl sie die Ursache immer noch nicht begriff.
„Machen Sie sich darüber keine Sorgen, das finden wir heraus,“ nickte ihr der in ihren Augen viel zu junge Polizist aufmunternd zu. Wie hieß der Mann eigentlich? Er hatte sich vorgestellt, aber sie hatte nicht darauf geachtet. War das überhaupt wichtig?
Der Polizist hieß Walter Schuster und war sehr viel älter, als er aussah, nämlich 34 Jahre alt. Er sah ihr an, dass sie geschockt war und bat den Notarzt, sich um sie zu kümmern, was Carmen klaglos über sich ergehen ließ. Nachdem sie ein Beruhigungsmittel bekam, nahm sie die Situation um sich herum immer deutlicher wahr. Der Geräuschpegel war laut, viele Menschen riefen durcheinander. Die B12 war komplett gesperrt. Rettungswagen und Fahrzeuge verschiedener Art standen direkt in ihrem Blickfeld, dahinter hatten sich in beiden Richtungen Staus gebildet. Carmen wurde bewusst, dass das kein schlechter Traum war, das war knallharte, schonungslose Realität. Ihr wurde schlecht und sie musste sich noch im Rettungswagen übergeben.
Die Gestalt auf der Brücke stand sehr lange reglos da und beobachtete die Szenerie. Es mehrten sich die Schaulustigen, die alle trotz der unchristlichen Zeit aus ihren Löcher krochen. Es war höchste Zeit, zu gehen.
Die Rettungskräfte waren weg, nur noch die Pressemeute und die Schaulustigen ließen sich nicht vertreiben, die nicht davor zurückschreckten, die Polizeiermittlungen immer wieder zu behindern. Eine Fahrspur wurde für den Verkehr wieder freigegeben, was aber immer noch zu einer enormen Verkehrsbehinderung führte.
Es war schon lange hell, als sich Walter Schuster und die Kollegen darüber einig waren, dass das kein normaler Verkehrsunfall war.
„Wir brauchen die Kriminalpolizei,“ entschied Schuster. „Das war kein Unfall, das war Absicht.“ Mit einem flauen Gefühl im Magen rief er bei der Mühldorfer Kriminalpolizei an und wurde direkt mit dem Leiter der Kriminalpolizei Rudolf Krohmer verbunden. Schuster berichtete nicht nur von dem schrecklichen Vorfall und seiner Vermutung bezüglich einer Absichtstat, sondern auch über die Meldungen der letzten Monate.
„Seit Anfang September mehren sich Anzeigen, dass Gegenstände von Brücken auf die Fahrbahn geworfen wurden,“ sagte Schuster.
„Wie bitte?“ schrie Krohmer. „Wieso weiß ich nichts davon?“
„Unser Chef wollte die Sache nicht an die große Glocke hängen, wir haben im Hintergrund ermittelt. Schenk ging von einem Streich Jugendlicher aus, da die Gegenstände keine große Gefahr darstellten. Es handelte sich um kleine Kürbisse, Äpfel und dergleichen. Nichts, wodurch großer Schaden hätte angerichtet werden können. Aber das heute Nacht war ein anderes Kaliber. Es wurden Pflastersteine geworfen.“
„Wie geht es dem Opfer?“
„Er ist sehr schwer verletzt. Moment – Mein Kollege bekommt gerade eine Nachricht aus dem Krankenhaus.“
Krohmer wartete ungeduldig, er hatte kein gutes Gefühl. Dann endlich meldete sich der Kollege Schuster wieder.
„Herr Krohmer?“
„Ja?“
„Das Opfer ist vor wenigen Minuten verstorben.“
2.
Krohmer rief sofort seinen Altöttinger Kollegen Schenk an und machte seinem Ärger Luft. Natürlich wusste Schenk bereits von dem schrecklichen Unfall und fühlte sich sehr schlecht.
„Ich habe gehört, dass wir es mit einem Toten zu tun haben und Sie können vielleicht nachvollziehen, wie ich mich fühle. Ich ging von einem Streich aus. Jetzt weiß ich auch, dass ich mit meiner Einschätzung falsch lag. Wir hätten die Sache an die Kripo weiterleiten müssen, das ist mir bewusst. Nie im Leben hätte ich mit einem solchen Vorfall gerechnet. Wir haben lediglich Reste von Kürbissen und Kleinobst sichergestellt, die auch im schlimmsten Fall keinen Schaden angerichtet hätten,“ sagte Schenk kleinlaut. „Ich hielt es besser, die Kriminalpolizei und vor allem die Presse nicht zu informieren. Trotzdem sind anscheinend Informationen durchgesickert. Es hat sich eine Bürgerwehr gebildet, die seit einigen Wochen auf Brücken patrouilliert.“ Während Schenk sprach, wurde ihm übel. Ja, er wusste von dieser Bürgerwehr und nahm sie dennoch nicht ernst. Was hätten sie anrichten können? Wenn sich diese Leute die Nächte um die Ohren schlagen wollen, sollten sie das gerne tun, er hatte nichts dagegen. Er war sich sicher, dass dieser Unsinn spätestens dann wieder aufhörte, wenn die Nächte kälter wurden.
„Eine Bürgerwehr? Dann zieht die ganze Geschichte bereits viel weitere Kreise, als angenommen.“ Krohmer stöhnte auf. Wie hätte er an Schenks Stelle reagiert?
„Schicken Sie uns alles zu, was Sie über diese Brückenwürfe und die Bürgerwehr haben,“ sagte Krohmer.
„Selbstverständlich.“ Schenk hatte aufgelegt und gab die Anweisung weiter. Dann lehnte er sich zurück. Hatte er die Vorfälle nicht ernst genug genommen? Wäre es nicht seine verdammte Pflicht gewesen, sofort die Kriminalpolizei zu informieren? Nein. In seinen Augen war das ein dummer Streich, den man nicht unnötig aufbauschen sollte. Und damit lag er definitiv falsch. War er vielleicht doch schon zu alt für den Job? Noch konnte er seine Pensionierung für ein weiteres Jahr hinauszögern, München hat bereits seine Zustimmung signalisiert. Er war gerne Polizist und wusste auch nichts anderes mit sich anzufangen. Sollte er etwa Tauben füttern oder sich ein Hobby suchen, für das er seit Jahrzehnten keine Zeit hatte? Zum ersten Mal dachte er ernsthaft darüber nach, ob es nicht klüger wäre, den Stuhl endgültig frei zu machen.
Krohmer trommelte seine Leute zusammen, dieser Vorfall hatte absolute Priorität.
„Wir haben einen neuen Fall. Ein Verrückter hat gegen halb vier heute Nacht Pflastersteine von einer Brücke bei Altötting geworfen und dabei einen Wagen erwischt. Der Wagen kam von der Fahrbahn ab und überschlug sich mehrfach,“ sagte Krohmer zu seinen Kriminalbeamten der Mordkommission. „Das Unfallopfer verstarb im Krankenhaus.“
„Um wen handelt es sich?“
„Sein Name ist Patrick Ziegler, er war gerade mal 21 Jahre alt. Nach ersten Informationen kam er von der Nachtschicht.“
Diese Nachricht wurde mit Entsetzen aufgenommen. Ein so junges Opfer machte jeden sprachlos.
„Es gibt keinen Hinweis auf den oder die Täter. Ich musste erfahren, dass seit Anfang September Gegenstände von Brücken geworfen wurden, ohne dass uns dies gemeldet wurde.“
„Auch Pflastersteine?“
„Nein. Schenk sprach von Zierkürbissen, Äpfeln und Kleinobst, wovon offenbar Reste gefunden wurden. Von Pflastersteinen weiß die Polizei nichts. Die ausführlichen Berichte sind hier,“ sagte Krohmer und zeigte auf den dünnen Stapel Papiere vor sich.
„Hat die Presse darüber berichtet?“ Hans Hiebler las nur sporadisch die Tageszeitung und hatte davon noch nichts gehört.
„Nein. Der Altöttinger Kollege Schenk hatte entschieden, die Informationen zurückzuhalten. Er ging von einem Streich aus und ließ im Hintergrund ermitteln. Trotzdem sind offensichtlich einige Informationen darüber durchgesickert, wodurch sich eine Bürgerwehr gebildet hat, die seit einigen Wochen auf Brücken Wache schieben soll. Genauere Informationen über diese Bürgerwehr sind nicht bekannt. In den Ermittlungsakten gibt es nur Andeutungen und Vermutungen.“
„Eine Bürgerwehr? Ist die Reaktion nicht etwas übertrieben?“
„Den Altöttinger Kollegen wurden acht Fälle gemeldet. Ein Wahnsinn!“
„Eine Gruppierung wie eine Bürgerwehr bringt immer Probleme mit sich,“ stöhnte der 52-jährige Leo Schwartz, der auch heute wieder verschlafen hatte. Das geschah in letzter Zeit häufiger, seitdem er mit seinem 55-jährigen Freund und Kollegen Hans Hiebler um die Häuser zog. Beide waren Junggesellen und hatten genug davon. Leo wollte nicht mehr allein sein und suchte auf diesem Weg eine Frau, die zu ihm passte. War das wirklich der richtige Weg? Er hatte keine Ahnung. „Sie vermuten mehrere Täter, Chef?“
„Vorerst ja. Kümmern Sie sich darum und ziehen Sie den oder die Verrückten aus dem Verkehr,“ brummte Krohmer. Er hasste solche unberechenbaren Typen, deren Opfer jeder werden konnte. Immer wieder sah Krohmer auf die Uhr. Auf was wartete er?
„War es das, Chef?“ drängelte der 41-jährige Werner Grössert, der wie immer einen sehr teuren, modernen Anzug trug und aussah, als käme er direkt aus einem Modekatalog. Er war fassungslos, was er bezüglich der Brückenwürfe hören musste.
„Haben Sie es eilig?“ herrschte ihn der Chef an.
Was war nur mit Krohmer los? Er war heute sehr nervös, was nicht zu ihm passte.
Dann öffnete sich die Tür und Tatjana Struck trat ins Besprechungszimmer. Sofort standen alle auf und begrüßten die 37-jährige Kollegen, die wegen einer Schussverletzung lange im Krankenhaus war.
„Warum hast du keinen Ton gesagt, dass du wieder einsatzfähig bist?“ rief Leo erleichtert und umarmte die Frau, der die Aufmerksamkeit und die körperliche Nähe merklich unangenehm war. Während Hans und Werner das spürten und sich zurückhielten, merkte Leo nichts davon und drückte und herzte die Frau, die er sehr vermisst hatte. Er ließ es sich während der letzten Monate nicht nehmen, sich regelmäßig über ihren Gesundheitszustand zu informieren und sie ab und an zu besuchen.
Alle sprachen durcheinander und Krohmer schmunzelte. Die Überraschung war ihm gelungen. Es sah anfangs mit Tatjanas Genesung nicht gut aus, die Ärzte befürchteten das Schlimmste. Aber Frau Struck hatte gekämpft und war jetzt wieder einsatzfähig, obwohl ihr noch eine Kur zustand, die sie jedoch abgelehnt hatte. Hatte sie die zu voreilig und leichtfertig abgelehnt? Das zu bewerten, stand Krohmer nicht zu, das war die private Entscheidung der Kollegin Struck. Jetzt war die Mordkommission wieder komplett und in Anbetracht des Falles war das von Vorteil.
Krohmer ging in sein Büro. Er war nicht wegen der Kollegin Struck angespannt und genervt, sondern wegen des Anrufs des Staatsanwaltes, den er vorhin hatte abwürgen müssen. Das gefiel Eberwein sicher nicht. Der mochte es nicht, wenn er warten musste. Es ging um den Fall Ziegler und den damit verbundenen Brückenwürfen. Woher wusste Eberwein davon? Er hatte vorhin nur deutlich gemacht, dass sich die Mordkommission umgehend und mit vollem Einsatz um den Fall kümmern solle. Krohmer versprach, sich wieder bei ihm zu melden.
„Herr Eberwein? Meine Leute bearbeiten den Fall. Die Unterlagen aus Altötting liegen bereits vor. Frau Struck ist wieder mit an Bord, wodurch unsere Mordkommission wieder komplett wäre.“
Eberwein interessierte diese Information nur am Rande. Ihm ging es nur um den Fall Ziegler.
„Finden Sie das Schwein,“ sagte Eberwein wütend. „Machen Sie Druck bei Ihren Leuten. Urlaubsanträge sind gestrichen, dieser Fall geht vor. Halten Sie mich auf dem Laufenden.“ Eberwein hatte aufgelegt. Er zitterte und war immer noch sehr betroffen über die Todesnachricht. Das Opfer Patrick Ziegler war der Sohn seines besten Freundes. Er hatte ihm versprechen müssen, den Täter zu finden, der den Tod des einzigen Kindes zu verantworten hatte. Wie hätte er dem verzweifelten Mann dieses Versprechen verweigern können? Paul Ziegler und er waren seit dem Kindergarten befreundet und trafen sich regelmäßig. Wie oft sie gemeinsam im Urlaub waren, konnte er nicht mehr zählen. Sein eigener Sohn und Patrick waren ebenfalls befreundet. Und jetzt diese schreckliche Tragödie. Ja, es war richtig gewesen, ihm die Aufklärung des Mordfalles zu versprechen. Eberwein nahm seine Tasche, er hatte einen Termin bei Gericht und war spät dran. Er nahm sich vor, ab sofort in ständiger Verbindung mit Rudolf Krohmer zu bleiben, auch wenn er dem Chef der Mühldorfer Polizei damit auf die Nerven gehen sollte.
Davon ahnte Krohmer nichts, als er sich seiner Arbeit zuwandte.
„Jetzt reicht es aber,“ sagte Tatjana genervt. Sie mochte die Aufmerksamkeit bezüglich ihrer Person nicht und konnte nur sehr schwer damit umgehen. Sie war seit gestern Abend wieder in Mühldorf und war froh darüber. Die erdrückende Fürsorge ihrer Eltern, ganz besonders die ihres Vaters, ging ihr fürchterlich auf die Nerven. Ihr Vater bequatschte sie von morgens bis abends, in Frankfurt zu bleiben. Sie solle den Job bei der Polizei quittieren und sich irgendwo eine ruhige, ungefährliche Arbeit suchen, um die sich ihr Vater kümmern würde. Aber darauf konnte sie gerne verzichten. Sie liebte ihre Arbeit und wollte nichts anderes machen. Vor knapp einem Jahr hatte sie den Absprung von zuhause geschafft und jetzt war sie endlich wieder in Mühldorf. Ihre Wohnung war verwaist und kalt. Trotzdem fühlte sie sich dort wohler als irgendwo sonst auf der Welt. Sie war heute sehr früh aufgestanden und war vor ihrem ersten Arbeitstag seit diesem unsäglichen Vorfall in Wolfratshausen wieder in ihrem Leben angekommen. Vielleicht konnte sie wieder so etwas wie Normalität aufbauen und endlich wieder zur Ruhe kommen. Sie konnte es kaum erwarten, wieder durchzustarten. „Was liegt an, Leute?“
„Der Chef hat uns einen Fall aufs Auge gedrückt, der nicht gut aussieht. Irgendwelche Deppen werfen unterschiedlichste Gegenstände von Brücken auf Straßen.“
„Verletzte?“
„Seit heute gibt es einen Toten.“
„Wer ist das Opfer?“
„Patrick Ziegler. Der Junge war gerade mal 21 Jahre alt. Sein Fahrzeug wurde in voller Fahrt mit einem Pflasterstein getroffen.“
„Sonst noch etwas? Das können doch noch nicht alle Informationen gewesen sein.“
„Nun mal ganz langsam, junge Frau,“ sagte Hans. „Wir haben den Fall erst vorhin übertragen bekommen. Wir wissen auch noch nicht mehr.“
Mit großem Eifer machten sich die Kriminalbeamten an die Arbeit. Die Tatsache, dass das Todesopfer noch so jung war und er das einzige Kind der Familie war, schlug allen auf den Magen. Die Berichte der Altöttinger Kollegen waren dürftig, sie hatten nicht die kleinste Spur auf die Brückenwerfer. In den Unterlagen gab es auch keinen konkreten Hinweis auf Mitglieder der Bürgerwehr.
Werner hatte die entsprechenden Brücken, von denen Abwürfe gemeldet wurden, auf einer Karte eingezeichnet.
„Es waren hauptsächlich Brücken in Altötting und Neuötting betroffen. Niemand hat den- oder diejenigen gesehen. Die Meldungen wurden von betroffenen Autofahrern vorgenommen. Ich habe eine Liste mit Namen und Adressen angefertigt,“ schloss Werner seine Ausführungen.
„Wo und wie sollen wir anfangen?“ rief Leo.
„Wir sollten mit den Eltern des Opfers sprechen. Vielleicht bekommen wir einen Hinweis, der uns weiterhilft,“ sagte Tatjana.
„Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt. Die Zeugin Alramseder sagte, dass es zur Tatzeit stockdunkel war. Der Pflasterstein hätte jeden treffen können, auch ihren eigenen Wagen. Aber wenn du meinst, sprechen wir mit den Eltern, ich begleite dich.“ Hans nahm seine Jacke. Er musste raus hier. Schon seit Tagen saßen er und seine Kollegen an alten Fällen, mit denen der Chef immer wieder ankam, wenn kein aktueller Fall vorlag.
„Dann übernehme ich mit Werner die Zeugen,“ sagte Leo. Auch er war froh darüber, endlich aus dem Büro zu kommen. Wie Hans hasste auch er trockene Büroarbeit.
Es war kalt geworden, sehr kalt. Überall sah man Weihnachtsdekorationen, die zum Ende November jedes Jahr angebracht wurden. Dieses Jahr begann die Adventszeit besonders früh. Auch die Stadt Mühldorf ließ sich nicht lumpen und dekorierte den Stadtplatz, über den sie gerade fuhren, mit üppigen Sternen und Lichterketten. Hans liebte diese Jahreszeit, auch wenn sie ihn gleichzeitig traurig stimmte. Seine Eltern lebten schon lange nicht mehr und mit Wehmut dachte er daran, wie heimelig und gemütlich sein Elternhaus in der Vorweihnachtszeit geschmückt war. Der Duft von Weihnachtsplätzchen durchzog das Haus und überall glitzerte und funkelte es. Das war lange vorbei. Hans hatte kein Händchen für Dekoration und so blieben die alten Erinnerungsstücke in den Kartons auf dem Speicher.
„Was ist mit dir? Träumst du?“ riss ihn Tatjana aus seinen Gedanken. „Ich habe dich etwas gefragt.“
„Entschuldige, ich war gerade ganz woanders. Wie war deine Frage?“
„Ich möchte wissen, ob es in der Zwischenzeit irgendetwas Neues gibt? Hat jemand geheiratet? Wurden Kinder geboren? Hast du endlich eine Frau gefunden, die es mit dir aushält?“
„Du warst gerade mal ein halbes Jahr weg. Außerdem haben wir dich abwechselnd besucht und dich auf dem Laufenden gehalten. Wie sieht es bei dir aus?“
„Ich bin wieder hier, das muss reichen,“ sagte Tatjana und zündete sich eine Zigarette an. Das war bereits die zweite, seit sie unterwegs waren. Tatjana war dünn geworden, viel zu dünn. Optisch sah sie immer noch gleich aus. Sie trug zu Jeans und dicken, bequemen Schuhen einen der selbstgestrickten Pullover, die sie sonst auch immer trug. Diese wurden von Häftlingen gestrickt, die sich dadurch für die Zeit nach dem Knast ein Zubrot verdienten; dieses Projekt hatte auch Tatjana ins Leben gerufen. Hans ließ sich von dem Äußeren nicht täuschen. Seine Kollegin hatte sich verändert und er hoffte, dass sich das wieder legte, denn er mochte sie genau so, wie sie vor dem tragischen Zwischenfall gewesen war. Ihr Unterton war schnippisch und kam etwas zu scharf rüber. Außerdem wurde sie nervös, wenn man versuchte, ihr in die Augen zu sehen. War er zu kritisch und beobachtete sie zu genau? Vielleicht hatte sie einfach nur schlecht geschlafen.
Vor dem Haus der Familie Ziegler atmete Hans tief durch. Die bevorstehende Unterhaltung mit den Eltern des Opfers schlug ihm jetzt schon auf den Magen. Tatjana ging es ähnlich. Vorhin war sie von ihrem Vorhaben noch völlig überzeugt, jetzt zweifelte sie. Warum wollte sie unbedingt mit den Eltern sprechen? Den Sohn hatte es zufällig getroffen, das stand für sie außer Frage. Was wollte sie hier? Sie zündete eine weitere Zigarette an.
„Möchtest du Zeit schinden? Irgendwann müssen wir da rein,“ sagte Hans und stieg aus. „Oder hast du es dir anders überlegt? Sollen wir wieder fahren?“
„Nein. Jetzt sind wir hier und ziehen die Sache auch durch.“ Tatjana warf die Kippe auf die Straße und klingelte an dem schlichten, gepflegten Einfamilienhaus. Die Lautstärke der Türglocke überraschte beide. Ein Mann Mitte fünfzig öffnete die Tür.
„Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Struck, das ist mein Kollege Hiebler. Wir sind hier, ….“ Weiter kam Tatjana nicht. Der Mann drehte sich wortlos um und ging ins Haus, wobei er die Haustür offenließ. Tatjana und Hans folgten dem Mann und staunten nicht schlecht, als sie den Staatsanwalt Eberwein im Wohnzimmer vorfanden.
„Herr Eberwein? Was machen Sie hier?“
„Ich bin ein Freund der Familie Ziegler. Gut, dass Sie sich um den Fall kümmern. Willkommen zurück, Frau Struck,“ sagte Eberwein und gab ihr sogar die Hand. „Ich darf mich verabschieden. Ich gehe davon aus, dass Sie alles daransetzen, um den Mörder von Patrick so schnell wie möglich zu finden?“
„Selbstverständlich.“
Der Termin bei Gericht war schneller vorbei, als gedacht. Eberwein fühlte sich dazu verpflichtet, seinem Freund und dessen Frau persönlich beizustehen. Jetzt, da die Kriminalbeamten hier waren, konnte er beruhigt gehen. Eberwein war zufrieden, die Kriminalpolizei arbeitete wie gewünscht mit vollem Einsatz an dem Fall.
Das Ehepaar Ziegler beantwortete alle Fragen der Kriminalbeamten. Sie schilderten ihren Sohn in den buntesten Farben, was ihnen augenscheinlich sehr schwer fiel. Besonders Barbara Ziegler war am Boden zerstört und musste sich sehr konzentrieren, alle Fragen richtig zu verstehen. Für Hans stand außer Frage, dass sie unter Medikamenten stand. Paul Ziegler war sehr viel gefasster. Er hing an Hans‘ und Tatjanas Lippen und vervollständigte die Aussagen seiner Frau, wenn sie ihm nicht ausführlich genug schienen. Tatjana und Hans hatten keine Fragen mehr. Sie würden am liebsten so schnell wie möglich verschwinden, aber Frau Ziegler hinderte sie daran.
„Sie dürfen sich gerne in Patricks Zimmer umsehen. Wir haben nichts verändert. Alles ist noch so, wie es unser Sohn hinterlassen hat. Kommen Sie bitte.“
Nach den Aussagen der Eltern war es für die Kriminalbeamten nicht notwendig, das Zimmer des Opfers zu durchsuchen, aber Frau Ziegler bestand darauf. Sie folgten der Frau in die erste Etage. Überall hingen Fotos des Opfers in den unterschiedlichsten Altersphasen. Patricks Zimmer war sehr schlicht, aber sauber und ordentlich.
„Sehen Sie sich alles an. Vielleicht finden Sie etwas, dass für die Ermittlungen wichtig wäre. Sie dürfen gerne den Laptop mitnehmen, wenn Sie mir versprechen, dass ich ihn wiederbekomme. Das war das letzte Geschenk an unseren Sohn zu seinem letzten Geburtstag. Mein Mann kennt sich damit sehr gut aus, er und Patrick haben ihn gemeinsam ausgesucht und stundenlang darüber diskutiert. Ich verstehe davon nichts.“ Sie weinte nicht, sondern starrte nur auf den Laptop. Was ging in diesem Moment in der Frau vor? Tatjana und Hans sahen sich alles an und waren froh, als sie endlich in ihrem Wagen saßen.
„Das war keine gute Idee gewesen,“ sagte Hans, der völlig fertig war. „Was hat das gebracht? Warum wolltest du mit den Eltern sprechen?“
„Ja, das hätten wir uns sparen können. Trotzdem war es gut, dass wir hier waren. Wir wissen mehr vom Opfer und habe den Verlust und die Trauer der Eltern gespürt und ihnen das Gefühl gegeben, dass wir den Tod des Sohnes sehr ernst nehmen. Das war wichtig für die beiden. Finden wir das Arschloch, das Ihnen das angetan hat.“
3.
Andreas Hegel war wütend, als er mitbekam, dass man sich überall über den nächtlichen Unfall unterhielte. Egal, wo man hinkam, war das das Thema Nummer eins. Es schien, als ginge ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Es machte die Runde, dass Pflastersteine geworfen wurden und das Auto deshalb verunglückte. Und es wurde von einem Toten gesprochen. Diese Nachricht schockierte ihn.
Er selbst hatte in den letzten Wochen mehrere Gegenstände von Brücken geworfen, die jedoch allesamt ihre Ziele verfehlten. Niemand hatte überhaupt Notiz davon genommen, seine Aktionen waren völlig sinnlos gewesen. Erst gestern hatte er beschlossen, weit größere und schwerere Gegenstände zu benutzen, damit man endlich auf ihn aufmerksam wurde. Und jetzt das! Pflastersteine waren starker Tobak! Abgesehen von der Art der Gegenstände lag es auf der Hand: Irgendjemand ahmte ihn nach und war damit auch noch erfolgreich, während seine Aktionen verpufften.
Andreas fuhr nach Hause und warf wütend seine Jacke in die Ecke des Wohnzimmers, wobei mehrere Flaschen umgeworfen wurden. Dass seine Wohnung und er selbst immer mehr verwahrlosten, merkte er längst nicht mehr. Seit der unsäglichen Gerichtsverhandlung vor drei Monaten hatte sich sein Leben grundlegend verändert. Mit dem Unfall im Juli, den er nicht selbst verursacht hatte, fing alles an. Ein Fahrzeug hatte ihm die Vorfahrt genommen und war mit hoher Geschwindigkeit ungebremst in ihn reingefahren. Ein Unfall, wie er jeden Tag vorkommen kann und der außer viel Blechschaden nur eine Verletzung an seinem Bein verursacht hatte. Ja, er hatte Schmerzen, aber das war jetzt wirklich keine große Sache. Shit happens. Einem dieser verdammten, übereifrigen Polizisten war seine Alkoholfahne aufgefallen und er hatte ihn noch an der Unfallstelle blasen lassen; 1,4 Promille. Ja, er hatte vielleicht ein Bier zu viel getrunken, aber schließlich hatte er keinerlei Schuld an dem Unfall. Trotzdem hatte man ihm sofort den Führerschein abgenommen. Bei der Gerichtsverhandlung vor drei Monaten hatte er fest damit gerechnet, dass der Richter den Irrtum bemerken würde und er seinen Führerschein wiederbekäme. Aber weit gefehlt! Der Unfallverursacherin konnte man nachweisen, dass sie während der Fahrt telefoniert hatte. Und das mit zwei Kindern im Fond! Sie nahm die Schuld nach zähen Diskussionen schließlich auf sich und war geständig. Sie kam mit einer in seinen Augen viel zu glimpflichen Strafe davon, während sich der Richter voll auf ihn eingeschossen hatte. Er hielt ihm einen Vortrag über Alkohol im Straßenverkehr und beschimpfte ihn auch noch vor allen anderen. Natürlich hatte er versucht, sich zu rechtfertigen und auf die in seinen Augen völlig überzogenen und ungerechtfertigten Vorwürfe zu reagieren, aber sein Anwalt Dr. Siegbert hielt ihn zurück. Warum schritt der Mann nicht ein? Stattdessen musste er sich abkanzeln lassen und stand dümmer da als die geständige Unfallverursacherin. Und dann hörte er den Richterspruch: Sein Führerschein war für die nächsten drei Jahre weg! Natürlich hatte Andreas Hegel lautstark protestiert und mit Beleidigungen um sich geworfen, was ihm obendrauf noch eine Geldstrafe einbrachte.
„Warum haben Sie nichts gesagt?“ schrie Hegel seinen Anwalt an, als alle anderen den Saal verlassen hatten. „Wofür bezahle ich Sie eigentlich?“
„Was haben Sie erwartet?“ sagte der Dr. Siegbert ruhig. „Sie sind bereits mehrfach auffällig geworden, der Richter konnte nicht anders urteilen. Haben Sie wirklich geglaubt, dass Sie ohne Strafe aus der Sache rauskommen? Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie wissen doch selbst am besten von ihren Eskapaden, die Sie sich in den letzten Jahren geleistet haben. Nein, Herr Hegel, das haben nur Sie allein zu verantworten, das haben Sie sich selbst eingebrockt. Die drei Jahre Führerscheinentzug gehen aufgrund Ihrer Vorgeschichte völlig in Ordnung.“ Dieses selbstgefällige und bisher sehr zurückhaltende Arschloch stand nicht hinter ihm, sondern stieß nochmals tief in die Wunde.
„Sie haben damit gerechnet? Warum haben Sie keinen Ton gesagt?“ Andreas war fassungslos. Er hatte vor der Verhandlung nur ein kurzes Gespräch mit seinem Anwalt, der dabei nicht ein Wort in diese Richtung verloren hatte. Ganz im Gegenteil! Er tat so, als sei diese Gerichtsverhandlung nur eine reine Formsache.
„Ich dachte, Sie wüssten, wie es um Sie steht. Sie müssen doch gewusst haben, dass Sie Ihre Fahrerlaubnis heute nicht bekommen.“ Erst jetzt sah er seinem Mandanten heute zum ersten Mal ins Gesicht und lachte auch noch. „Sie haben tatsächlich damit gerechnet?“
„Selbstverständlich! Ich hatte keine Schuld an dem Unfall. Ich brauche meinen Führerschein, sonst kann ich meinen Laden zumachen!“
„Ja, die Gegenseite hat den Unfall verursacht und das hat der Richter heute bestätigt. Trotzdem hatten Sie eine beträchtliche Menge Alkohol im Blut und tragen somit eine Mitschuld. Bei Alkohol verstehen Richter keinen Spaß und das ist auch richtig so. Wenn ich mir vorstelle, wie viele alkoholisierte Fahrer tagtäglich da draußen ihr Unwesen treiben und eine Gefahr für alle anderen Verkehrsteilnehmer darstellen, wird mir schlecht.“ Erst jetzt spürte Andreas die Abneigung seines Anwalts. War es richtig gewesen, ihn auszuwählen? Wäre er mit einem anderen Anwalt nicht sehr viel besser dagestanden? Die Überlegung war jetzt zu spät, das Urteil war gesprochen.
„Unternehmen Sie alles, was nötig ist, damit ich meinen Führerschein so schnell wie möglich wiederbekomme. Meine Existenz steht auf dem Spiel!“
Dr. Siegbert packte ruhig die Tasche mit den Unterlagen, in die er während der ganzen Verhandlung nicht einen Blick geworfen hatte. Hatte der Anwalt ihn überhaupt verstanden? Andreas wiederholte sein Anliegen, diesmal wurde er laut.
„Beruhigen Sie sich, Herr Hegel! Selbstverständlich werden wir Einspruch erheben. Bis dahin ist Ihr Führerschein eingezogen, nehmen Sie die vorläufige Entscheidung des Richters zur Kenntnis. Wie geht es Ihnen gesundheitlich?“
Der Anwalt hatte echt Nerven! Als ob ihm sein lädiertes Bein, wegen dessen er mehrere Wochen im Krankenhaus und auf Reha verbringen musste, jetzt noch wichtig war. Die Versicherung der Gegenseite kam für den finanziellen Schaden auf. Er bekam sogar Schmerzensgeld, das er längst ausgegeben hatte. Obwohl ihm sein Bein immer noch Schwierigkeiten machte, war sein Gesundheitszustand nicht das Problem. Er brauchte dringend seinen Führerschein, ohne den er aufgeschmissen war. Erst vor zwei Jahren hatte er sich mit damals vierunddreißig Jahren als Schreiner selbständig gemacht. Die Konkurrenz war groß, aber er arbeitete hart. In den beiden Monaten vor diesem unsäglichen Unfall hatte er zum ersten Mal schwarze Zahlen geschrieben. Wie sollte er seine Schreinerei ohne Führerschein weiterführen? Mit dem Fahrrad? Eine zusätzliche Kraft konnte er sich nicht leisten, das warf die Firma nicht ab. Er kam ja selbst gerade so über die Runden, wie sollte er da einen Arbeiter bezahlen?
Seit der Gerichtsverhandlung war viel Zeit vergangen und Andreas hatte keine Zukunftsperspektive mehr. Er war mit den Nerven am Ende und hatte längst resigniert. Sein Anwalt Dr. Siegbert hatte die Einspruchsfrist verpasst, obwohl Andreas regelmäßig in der Kanzlei war, um Druck zu machen. Der Anwalt hatte ihn ruiniert! Seine Firma musste zum Ende des Jahres schließen, wofür er nicht nur dem Anwalt, der Unfallverursacherin, sondern auch unvorsichtigen Verkehrsteilnehmern die Schuld gab. Solange er noch nicht wusste, wie er sich am Anwalt und der Unfallverursacherin rächen konnte, nutzte er die Zeit, alle Verkehrsteilnehmer zu erziehen. Er musste sie dazu bringen, vorsichtiger zu fahren. Und das tat er seit Wochen, indem er harmlose Gegenstände von Brücken warf. Er wollte keine Unschuldigen treffen, sondern lediglich mahnen, mehr nicht. Anfangs war er euphorisch gewesen, doch es tat sich nichts. Die Fahrzeuge fuhren keinen Deut vorsichtiger. Vor allem wurde ihm die gewünschte Aufmerksamkeit versagt. Warum berichteten die Medien nicht über seine Aktion? Interessierte das niemanden? Aber heute Nacht hatte sich das geändert. Jemand ahmte ihn nach und hatte einen schrecklichen Unfall verursacht. Der andere hatte sogar ein Menschenleben auf dem Gewissen. War das Absicht gewesen? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er selbst hätte niemals ein Menschenleben riskiert. Warum sollte er? Er wollte mahnen und nicht morden.
Er legte sich auf die Couch und trank ein Bier. Die Rache am Anwalt und der Unfallgegnerin musste warten. Jetzt war der richtige Zeitpunkt, um an der Brückenaktion dranzubleiben. Er hatte jetzt die Chance, dass sich endlich etwas ändern könnte. Danach kam der Anwalt dran, der sich seit der Gerichtsverhandlung verleugnen ließ. Und danach würde die Unfallverursacherin daran glauben müssen. Noch brauchte er seinen Anwalt, ohne den er nicht an die persönlichen Daten der Frau kam. Bis heute hatte es Dr. Siegbert nicht für nötig erachtet, ihm Kopien der Unterlagen zukommen zu lassen. War das überhaupt zulässig? Durfte der Anwalt so mit ihm umgehen? Briefe an die Anwaltskammer blieben unbeantwortet. Auch Versuche, sich einen anderen Anwalt zu nehmen, schlugen fehl. Niemand wollte gegen einen Kollegen vorgehen. Diese verdammte Brut hielt zusammen!
Andreas war wütend. Er nahm eine weitere Flasche Bier und leerte sie in einem Zug.
Wer war der andere, der den nächtlichen Unfall mit dem Toten zu verantworten hatte?
4.
Andreas Hegel ging in seinem zugemüllten Wohnzimmer unruhig auf und ab. Es ließ ihm keine Ruhe, dass der Nachahmer erfolgreicher war als er. Wer war der andere? Er musste es herausfinden und fuhr erneut mit dem Rad zu der fraglichen Brücke, auf der er heute früh stand. Er bekam Gänsehaut, als er das Bild des Unglücks vor sich hatte. Heute früh wurde er durch die vielen Sirenen aufgeschreckt, er war längst wach. Wie jede Nacht schlief er schlecht. Sein Schicksal und die Schmerzen im Bein ließen ihn nicht zu Ruhe kommen. Als er die Sirenen hörte, spürte er sofort, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Er zog sich an, frühstückte nur ein Bier und fuhr sofort los. Er folgte nicht nur dem Lärm der Sirenen, sondern den vielen Schaulustigen, die wie er zum Unglücksort eilten. Dass es einen Toten gab, war in dem ganzen Trubel untergegangen.
Jetzt stand er allein auf der Brücke und sah auf die B12. Die Spuren des Unfalls waren noch deutlich zu sehen. Von hier aus musste der andere die Pflastersteine geworfen haben, deren Reste immer noch aufgelesen und fotografiert wurden. Wie viele Fotos brauchte die Polizei denn noch? Von dort kam das Unfallfahrzeug. Wie konnte der andere den Wagen so genau treffen? Ihm war es mit den Kürbissen, Äpfeln und sonstigem Kleinobst noch nie gelungen, auch nur annähernd einen Wagen zu treffen. Waren seine Gegenstände für Brückenwürfe ungeeignet? Das musste es sein! Er musste sich dringend um schwerere Wurfgeschosse kümmern, damit seine Aktion nicht unterging. Keine gefährlichen. Er musste sich welche besorgen, die auch wahrgenommen wurden. Welche das sein sollten, wusste er noch nicht.
Während er hier stand, trafen immer mehr Menschen ein, die sich ebenfalls den Unfallort ansehen wollten. Ekelhaft! Andreas widerten solche Menschen an, die sich am Unglück anderer labten. Er selbst war aus einem anderen Grund hier und zählte sich nicht zu diesen Trotteln. Er erhoffte sich Hinweise auf den Typen, der ihn kopierte. War es nicht so, dass jeder Täter zum Tatort zurückkehrte? Stundenlang stand er hier und unterhielt sich mit anderen, die ihn mehr und mehr langweilten. Alle heuchelten Betroffenheit, einige weinten sogar. Schwachsinnige Gefühlsduselei! Wo waren eigentlich diese Stümper von Bürgerwehr, über die man hier schon die ganze Zeit sprach? Andreas hatte vor einigen Wochen davon läuten hören, aber hatte noch keinen von ihnen persönlich gesehen. Heute schien keiner der Gruppe hier zu sein. Wenn, dann hätten sie sich dazu bekannt und mit ihrem Edelmut geprahlt. Ob es diese Bürgerwehr überhaupt gab? Andreas glaubte nicht daran, denn bisher konnte er unbehelligt seiner Arbeit nachgehen. Auf keiner der Brücken, von denen er je Gegenstände geworfen hatte, war er einer Menschenseele begegnet. Er war sicher, dass das nur Wichtigtuer waren, die sich profilieren wollten.
Seit Andreas hier war, beobachtete er, dass die Fahrzeuge, die unter der Brücke durchfuhren, nicht langsamer fuhren. Konnte das wahr sein? Wie dumm musste man eigentlich sein? Er war sicher, dass er die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge mit bloßem Auge einschätzen konnte. Von den geschätzt fünfzig Fahrzeugen fuhr nicht ein einziger die vorgeschriebenen 60 km/h. Es waren sogar einige darunter, die deutlich über hundert fuhren, obwohl hier immer noch Polizeiwagen parkten, von denen einige das Blaulicht eingeschaltet hatten. Andreas kotzten diese rücksichtlosen Fahrer an und er entschied schließlich, wieder zu gehen. Er war in den letzten drei Nächten nicht unterwegs gewesen, dazu war es ihm zu kalt. Aus Respekt vor dem Toten würde er auch die kommende Nacht nichts unternehmen, schließlich wusste er, was sich gehörte.
Erneut versuchte Andreas, mit seinem Anwalt zu sprechen. Die Frau am Empfang wimmelte ihn wie immer ab. Obwohl er jedes Mal einen fürchterlichen Aufstand machte, verscheuchte man ihn wie einen lästigen Bittsteller. Er war doch Klient dieser Kanzlei und hatte ein Recht darauf, seinen Anwalt zu sprechen! Enttäuscht und wütend stand er auf der Straße. Er fluchte laut, wobei es ihm gleichgültig war, dass Passanten den Kopf schüttelten und ihn verwundert ansahen. Er fuhr mit dem Rad zum Supermarkt und kaufte Bier und Schnaps. Mit dem Alkohol legte er sich zuhause vor den Fernseher. Im Wohnzimmer war es kalt, im ganzen Haus war es kalt. Im Hof lag genug Holz, aber das musste erst zu Brennholz verarbeitet werden und dazu hatte er keine Lust. Er nahm die Bettdecke und mummelte sich ein. Obwohl er versuchte, der Fernsehsendung zu folgen, hatte er die Bilder der rücksichtslosen Raser ständig vor Augen. Wie die Verrückten fuhren sie auf der Bundesstraße an der Unfallstelle vorbei, was ihn immer mehr verärgerte. Morgen Nacht würde er wieder auf Tour gehen, das stand für ihn fest. Ob er diesmal schwerere Gegenstände mitnehmen sollte? Noch hatte er Skrupel davor und hielt sich lieber an dem Altbewährten. Hinterm Haus lagen noch genug Äpfel, er brauchte sich nur bedienen. Und wo er die Zierkürbisse herbekam, wusste er.
Auch in dieser Nacht schlief Andreas schlecht. Die Wirkung des Alkohols hielt leider nie lange an, auch wenn der den Pegel erhöhte. Wenn er wach wurde, hatte er die ganze Tragweite seines Schicksals vor Augen und ihn überkam Selbstmitleid. Er bejammerte sich und sein Leben und machte andere dafür verantwortlich. Das ging so lange, bis er sich schwor, sich an denen zu rächen, die ihm das angetan hatten. Erst dann hatte er die Chance, wieder einzuschlafen.
Andreas Hegel lachte hysterisch, als er den heutigen Zeitungsartikel wieder und wieder las. Es wurde ausführlich über den tödlichen Unfall berichtet. Das Opfer war 21 Jahre alt. Ganz am Schluss stand ein Hinweis bezüglich seiner eigenen Aktionen. Nichts genaues, nur vage Andeutungen. Konnte das wahr sein? Bekam er endlich die Aufmerksamkeit, die er verdiente? Es war nicht so, dass seine Aktionen unbeachtet blieben! Sie waren bekannt und darüber freute er sich wie ein kleines Kind. Die Empörung über sein Tun war groß und man verurteilte die Taten, ohne den Hintergrund dafür zu kennen. Typisch! Als ihm unrechtmäßig der Führerschein abgenommen wurde und man damit seine Existenz zerstörte, hatte das niemanden interessiert. Aber jetzt, wo er vermeintlich in die Sicherheit des Straßenverkehrs eingriff und dadurch Angst und Schrecken verbreitete, regte sich jeder auf und verurteilte ihn. Warum? Er warf nur ungefährliche Gegenstände von Brücken, die auch bei einem direkten Aufprall keinen großen Schaden anrichteten. Pflastersteine, wie ihn der andere, sein Konkurrent, verwendet hatte und wodurch ein Mensch zu Tode kam, waren ihm zu gefährlich. Außerdem hatte er keine Pflastersteine, die hätte er extra kaufen oder klauen müssen. Nein, das war viel zu umständlich. Wie sollte er sie transportieren? Mit dem Fahrrad etwa, auf das er seit Monaten angewiesen war und das er hasste wie die Pest? In den nächsten Tagen war die Beerdigung des Todesopfers, das nicht auf sein Konto ging. Trotzdem war es für ihn selbstverständlich, dass er daran teilnehmen würde. Schon allein aus Neugier. Hieß es nicht immer in Krimis, dass der Täter zum Tatort und auf Beerdigungen auftauchte? War der wirklich so dreist? Und würde er denjenigen erkennen? Wie kam es eigentlich genau zu dem Unfall? Die Zeitung gab darüber keine Auskunft. Für Andreas lag es auf der Hand, dass der junge Mann sehr wahrscheinlich viel zu schnell unterwegs gewesen war.
Heute war es wieder eiskalt. Andreas Hegel fuhr den ganzen Tag mit dem Fahrrad umher und beobachtete den Verkehr von verschiedenen Brücken aus. Heute war er zufrieden. Fahrzeuge fuhren sehr viel vorsichtiger. Vor allem vor Brücken kam es nicht selten vor, dass abgebremst wurde, das hatte er selbst beobachtet. Natürlich lag das Fahrverhalten vor allem an dem ausführlichen Zeitungsartikel und den schrecklichen Bildern, aber er hatte durch seine Aktionen, die am Rande erwähnt wurden, schließlich auch seinen Teil dazu beigetragen. Endlich!
Er hatte sich unter die Schaulustigen gemischt, die sich vermehrt auf Brücken trafen. Endlich stieß er auf Mitglieder dieser Bürgerwehr, die stolz von ihren Einsätzen berichteten. Es gab sie also tatsächlich! Andreas wurde neugierig und sog jedes einzelne Wort auf. Als andere Fragen stellten, wurde auch er mutig und stellte ebenfalls Fragen. Die Gruppe bestand also aus zwölf Personen, die zu zweit Brücken patrouillierten. Pah! Lächerlich! Es gab im Landkreis und Umland so viele Brücken, dass die paar Hansel dafür im Leben nicht ausreichten. Als ob der kleine Haufen ihn von seinem Plan abhalten könnte! Hubert Mittermeier war einer der Anführer der Bürgerwehr. Er kannte den Versicherungsmakler, er war bis zur Gerichtsverhandlung selbst Kunde bei ihm gewesen. Danach konnte er die Prämien nicht mehr bezahlen und eine Kündigung nach der anderen flatterte ins Haus. Mittermeier war sogar bei ihm zuhause gewesen und wollte mit ihm sprechen. Warum hätte er mit ihm sprechen sollen? Es war keine Kohle mehr da und damit gab es auch keine Versicherung mehr. Basta.
Andreas hatte sich mit einigen Mitgliedern dieser Gruppierung intensiver unterhalten und sich dabei köstlich amüsiert. Wenn die wüssten, dass auch er der Grund für diese Aktionen war, hätten sie ihn vermutlich gelyncht. Aber niemand ahnte etwas. Auch in dem ausführlichen Zeitungsartikel wies nichts auf ihn als Täter hin. Sehr schön!
In der kommenden Nacht hatte er wieder einen Einsatz geplant und musste sich ausruhen, um dafür fit genug zu sein. Diesmal wollte er sich nicht mit Brücken auf der B12 und kleineren Brücken im Stadtgebiet Alt- und Neuötting begnügen, er hatte die Autobahnbrücke bei Neuötting im Visier.
5.
„Diese Zeitungsartikel verbreiten Angst und Schrecken. Es ist unverantwortlich, wie mit der Thematik umgegangen wird,“ maulte Krohmer und warf dabei die Tageszeitung auf den Tisch. „Abgesehen von den vielen, vielen Fotos wird der Unfall haarklein zerpflückt und dabei dem Opfer eine Mitschuld vorgeworfen. Widerlich, besonders für die Angehörigen des Toten.“
„Seien Sie nicht ungerecht, Chef,“ sagte Hans. „Es ist die Pflicht der Journalisten, die Bevölkerung aufzuklären. Ich finde, dass die Informationen längst hätten veröffentlicht werden müssen. Vielleicht nicht gerade in dieser Form und dem unterschwelligen Vorwurf, aber darüber kann man streiten.“
„Ja, das weiß ich. Trotzdem würde ich diesen Idioten, die Gegenstände von Brücken werfen, nicht die Ehre dieser Aufmerksamkeit zukommen lassen, die sie in meinen Augen nicht verdient haben. Was gibt es Neues?“
„Ich habe mit den Altöttinger Kollegen gesprochen,“ sagte Leo, der dieses Thema eben absprechen wollte. „Es wurden bisher in den letzten Monaten tatsächlich nur ungefährliche Gegenstände von Brücken geworfen. Die Altöttinger Kollegen sprachen von Kürbissen und Kleinobst, die keinen Schaden angerichtet hatten. Man fand auch einen Fahrradreifen, der aber wie andere Gegenstände auch nicht zwingend damit zu tun haben muss. Bewiesen sind aufgrund Zeugenaussagen nur die Würfe von Zierkürbissen, Zwetschgen und Äpfel.“ Leo hatte stundenlang mit den Kollegen gesprochen, die anfangs nicht begeistert darüber waren, mit ihm zu sprechen. Erst als Schenk deutlich machte, dass jeder einzelne mit der Kripo zusammenarbeiten musste, wurden Details genannt. Leo markierte die verschiedenen Brücken auf einer Karte, die Schenk zur Verfügung stellte. Es ergab sich, dass weit mehr Brücken genannt wurden, die nicht in den Unterlagen auftauchten. Auch private Handyfotos wurden ausgehändigt.
„Gibt es Täterbeschreibungen oder irgendeinen Hinweis?“
„Nein.“
„Haben die Kollegen einen Verdacht geäußert?“
„Nein.“
Während Leo gestern mit den Altöttinger Kollegen sprach, nahm sich Werner nochmals die Zeugin Alramseder, die Ersthelfer am Unfallort und Journalisten der Tagespresse vor. Auch mit den Verkehrsteilnehmern, die Anzeige erstattet hatten, hatte er gesprochen.
„Nichts. Nicht der kleinste Hinweis,“ schloss er seinen kurzen Bericht.
Krohmer hatte sich mehr von den Befragungen erhofft. Was sollte er Eberwein berichten? Der würde sich mit diesem Ermittlungsstand sicher nicht zufriedengeben.
Es war still. Hätten sie selbst mehr herausgefunden als die Altöttinger Kollegen, wenn man sich umgehend an die Kriminalpolizei gewandt hätte? Fraglich, wenn keine Hinweise oder Beweise vorlagen.
„Es ist völlig gleichgültig, was von Brücken geworfen wird. Die Tatsache, dass so etwas geschieht, ist schlimm genug und muss schnellstmöglich aufgeklärt werden. Ein Fahrer braucht sich nur zu erschrecken und die Kontrolle zu verlieren. Ich brauche nicht zu betonen, dass das jeden von uns treffen könnte.“ Krohmer war wütend. Solche Vorkommnisse hätten der Kriminalpolizei sofort gemeldet werden müssen. Statt sich darum zu kümmern, bearbeiteten seine Leute alte Fälle, was gerne warten konnte.
„Es gibt noch ein Problem,“ fügte Leo hinzu. „Die Bürgerwehr ist nach dem tödlichen Vorfall sehr aktiv geworden und lässt sich nicht davon abhalten, verstärkt auf Brücken zu patrouillieren. Den Altöttinger Kollegen ist es gelungen, einige Namen der Mitglieder herauszufinden, die vor einer Stunde übermittelt wurden. Das sind keine harmlosen Spinner, sondern bekannte und angesehene Bürger, die sich zusammengeschlossen haben.“
„Das ist mir völlig egal, um wen es sich dabei handelt. Gehen Sie der Sache nach und ziehen Sie die Leute aus dem Verkehr, und zwar so schnell wie möglich. Wir können keine Stümper brauchen, die unsere Arbeit unnötig erschweren. Was ist mit den Pflastersteinen?“
„Da sind wir noch dran,“ sagte Werner, der sich dieses Themas angenommen hatte. Da er selbst erst im Frühjahr seine Einfahrt neu pflastern ließ, war ihm die Besonderheit der roten Steine, dessen Reste die Polizei sichergestellt hatte, sofort aufgefallen. Das waren teure Pflastersteine, die nur auf Vorbestellung gefertigt wurden und die nur ein Betonwerk herstellte, das Werner rasch ausfindig gemacht hatte. Man wollte sich wieder bei ihm melden.
„Sie haben mit den Eltern des Toten gesprochen?“ wandte sich Krohmer an Tatjana. Er wusste längst von Eberwein von dem Besuch der Kollegen Struck und Hiebler.
„Ja. Das Opfer fuhr seit einem guten Jahr werktags dieselbe Strecke, wegen des Schichtdienstes allerdings immer zu unterschiedlichen Zeiten. Er arbeitete in einer Kfz-Zulieferfirma in Erding und pendelte täglich. Laut den Eltern hatte er keine Feinde. Auch Arbeitskollegen und Nachbarn sprachen nur positiv über ihn.“
„Wie alt war das Opfer? Einundzwanzig Jahre? In dem Alter wissen Eltern nicht alles über ihre Kinder. Wie sieht es mit dem Freundeskreis aus? Mit einer Freundin?“
„Die Eltern wissen nicht viel, kennen teilweise nur die Vornamen der Freude. Von einer Freundin wissen sie nichts. Das Handy ist verbrannt, Daten auszulesen ist zwecklos. Wir haben die Verbindungsdaten des Telefonanbieters angefordert. Die Eltern haben uns den Laptop des Opfers überlassen. Fuchs ist dabei, diesen auszuwerten.“
„Das ist sehr dürftig. Es gibt keine anderen Hinweise?“
„Noch nicht. Erlauben Sie mir die Bemerkung, dass wir mit den Ermittlungen im Umfeld des Opfers nur unnötig viel Zeit verschwenden,“ sagte Werner und alle starrten ihn an. „Ich gehe davon aus, dass es sich um ein Zufallsopfer handelt. Ja, das Opfer fuhr jeden Werktag dieselbe Strecke, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten. Ich denke, dass es das Opfer zufällig getroffen hat, der Anschlag hätte jeden anderen treffen können. Die Zeugin Alramseder hätte die Brücke nur wenige Sekunden später passiert und dann hätte es vermutlich sie getroffen. Wir sollten uns auf denjenigen konzentrieren, der Gegenstände von Brücken wirft.“
„Wenn es einen Täter im direkten Umfeld des Opfers gibt?“ sagte Leo. „Mir ist klar, dass derjenige den Schichtplan des jungen Mannes sehr gut hätte kennen müssen. Trotzdem halte ich diese Möglichkeit für wahrscheinlich.“
„Und wenn es die Zeugin Alramseder treffen sollte? Diese Möglichkeit wurde bisher noch nicht überdacht.“ Hans machte sich Sorgen. Vielleicht hatte Werner recht und sie vergeudeten nur unnötig Zeit.
„Ermitteln Sie in alle Richtungen. Machen Sie sich an die Arbeit und sehen Sie zu, dass dieser Unsinn so schnell wie möglich aufhört. Es versteht sich von selbst, dass Urlaube gestrichen sind, bis der Fall gelöst ist. Tut mir leid, Herr Schwartz.“
Leo hatte bereits damit gerechnet, obwohl er dringend Urlaub brauchte. Er sehnte sich schon seit Monaten nach seiner alten Heimat und freute sich auf seine Ulmer Freunde, die er lange nicht gesehen hatte. Wer weiß, vielleicht schafften sie es noch, den Fall vor Weihnachten zu lösen.
Alle arbeiteten auf Hochtouren. Hans und Werner sprachen nochmals mit Carmen Alramseder, die die Möglichkeit einer vorsätzlichen Tat gegen sie selbst völlig abwegig fand. Sie hatte kaum soziale Kontakte und war stets bemüht, mit allen gut auszukommen.
„Sie können versichert sein, dass dies nicht mir gegolten hat,“ wiederholte sie. Auch, um sich selbst von dieser Aussage zu überzeugen. Ihre Gedanken rasten in ihrem Kopf hin und her, als die Polizisten bereits verschwunden waren. Zitternd schenkte sie sich einen Schnaps ein, obwohl es noch nicht einmal Mittag war. Was, wenn doch sie gemeint war? Gab es irgendjemanden, der solch einen Hass auf sie hatte? Nein, das konnte, das durfte einfach nicht sein! Trotzdem war sie beunruhigt und nahm sich vor, ihre Umgebung genauer im Auge zu haben und sie wusste, was das bedeutete. Die Unbeschwertheit, der normale Alltag war nicht mehr existent.
„Wir haben die Frau verunsichert,“ sagte Hans, der sich Vorwürfe machte. Er hatte in ihren Augen gesehen, dass sie schreckliche Angst hatte, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ.
„Das musste sein,“ erwiderte Werner. „Wenn der Anschlag doch ihr gegolten hat, wird sie vorsichtiger sein.“
Bis zum späten Abend hatten die Kriminalbeamten nicht den kleinsten Hinweis auf den oder die vermeintlichen Täter. Hans machte früher Feierabend, um sich nochmals ausführlich mit Carmen Alramseder zu unterhalten. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen, dass sie vielleicht ängstlich zuhause saß und sich sorgte. So konnte er sie nicht sich selbst überlassen. Nachdem er sie beruhigen konnte, unterhielten sie sich noch lange und hatten sich völlig verquatscht. Frau Alramseder machte auf ihn endlich einen gefestigten Eindruck. Die Frau gefiel ihm. Sie hatte nichts Künstliches an sich und ihr Humor war köstlich. Hätte er sie einladen sollen? Carmen Alramseder schien darauf zu warten, die Signale waren eindeutig, nachdem sie aus ihm herausgekitzelt hatte, dass er Single war. Normalerweise war es seine Art, sofort darauf einzugehen, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. War es die lose Einladung einer flüchtigen Bekannten für den späten Abend, die er vorhatte, anzunehmen? Als er im Wagen saß, ärgerte er sich über sich selbst. Er nahm sich vor, eine Einladung so schnell wie möglich nachzuholen.
Carmen Alramseder stand am Fenster und sah ihm nach. Sie hatte es darauf angelegt, dass der hübsche Polizist sie einlud und sie auf privater Ebene miteinander in Kontakt traten. Sie kannte solche Männer, sie waren leicht zu haben, auch wenn sie nicht lange blieben. Aber sie war allein und fühlte sich oft auch sehr einsam. Vor allem die Advents- und Weihnachtszeit war allein kaum zu ertragen. Mit einem Lächeln räumte sie die Kaffeetassen in die Spülmaschine. Herr Hiebler hatte sich Sorgen um sie gemacht, was ihr sehr guttat. Es war lange her, dass sich jemand um ihr Wohlergehen kümmerte. Sie war sicher, dass der Kommissar irgendwann vor ihrer Tür stehen würde.
Es klopfte an der Tür und Fuchs trat herein.
„Hier ist der Laptop, den Sie mir überlassen haben, Herr Schwartz. Wollten Sie mich veräppeln oder auf die Probe stellen?“
„Ich? Nein! Das ist der Laptop des Opfers. Wir haben ihn aus dessen Zimmer mitgenommen. Was ist damit?“
„Der ist fabrikneu. Da wurde noch nie darauf gearbeitet. Einen schönen Abend noch.“
Leo schüttelte unverständlich den Kopf und legte den Laptop in seine Schreibtischschublade.
„Vielleicht ist der Junge noch nicht dazu gekommen, sich darum zu kümmern. Seine Mutter sagte, dass er ihn zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Wann war der?“
„Am zweiundzwanzigsten September,“ rief Hans.
„Ist das nicht seltsam?“
„Nein. Junge Leute machen heute fast alles mit dem Smartphone. Laptops sind schon lange nicht mehr in.“
„Lasst uns für heute Schluss machen,“ stöhnte Tatjana auf, als sie auf die Uhr sah und erschrocken feststellte, dass es fast zwanzig Uhr war.
„Das ist doch mal ein Wort,“ rief Leo erfreut, dem der Kopf brummte. „Zur Feier deiner Rückkehr gebe ich einen aus. Na? Wie sieht es aus?“
Werner lehnte dankend ab, er hatte andere Pläne. Er hatte seiner Frau versprochen, mit ihr und der kleinen Tochter den ersten Weihnachtsmarkt in der Gegend zu besuchen. Drei Weihnachtsmärkte öffneten am heutigen Freitag die Tore und Werners Frau hatte sich für den in Altötting entschieden. Es war zwar schon sehr spät, aber noch nicht zu spät.
„Ich glaube, ich gehe nach Hause,“ sagte Tatjana. „Der erste Arbeitstag war hart und ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.“ Das war gelogen. Tatjana schlief fast überhaupt nicht mehr und auf Gesellschaft legte sie keinen gesteigerten Wert. Sie war am liebsten alleine und genoss die Ruhe.
„Schade.“ Leo war enttäuscht, er hätte sich gerne mit Tatjana ausführlich unterhalten. Er kannte noch nicht jedes Detail des schrecklichen Vorfalls und war neugierig. Wieder ein Abend, den er allein verbringen musste.
Er parkte seinen Wagen und sah bei seiner Vermieterin und Vertrauten Tante Gerda noch Licht. Leo bewohnte die ausgebaute obere Etage des einsam gelegenen Hofes vor den Toren Altöttings und fühlte sich sehr wohl hier, obwohl er die Freunde in Ulm vermisste. Er hasste die dunkle Jahreszeit, die ihn melancholisch werden ließ. Nein, heute wollte er nicht allein bleiben und klopfte bei Tante Gerda. Sie hatte nichts gegen einen Plausch mit Leo einzuwenden. Seit Leos Freundin Viktoria nach Berlin gegangen war, beobachtete sie, wie Leo immer einsamer und trauriger wurde. Daran änderten sich auch die nächtlichen Streifzüge mit ihrem Neffen Hans nichts, zu denen sie ihn angestiftet hatte. Wie viele Damen sie Leo in den letzten Monaten vorgestellt hatte, konnte Tante Gerda nicht mehr zählen. Sie hatte es längst aufgegeben, ihn zu verkuppeln. Leo war stur, anspruchsvoll und eigensinnig. Als er jetzt wie ein Häufchen Elend vor ihr stand, ließ sie ihn herein. Sie schaltete den Fernseher aus und öffnete eine Flasche Rotwein. Nach dem ersten Glas erzählte Leo von Tatjanas Rückkehr und von dem Fall, von dem Tante Gerda in der Zeitung gelesen hatte. Tante Gerda hörte aufmerksam zu und wurde hellhörig, als sie den Namen des Opfers hörte.
„Patrick Ziegler? Ist das der Sohn von Paul Ziegler?“
„Richtig. Warum fragst du?“
„Ich kenne ihn von früher,“ antwortete Tante Gerda und schenkte einen weiteren Schnaps ein, worauf sofort das Thema gewechselt wurde. Tante Gerda kannte Paul sehr gut. Sie war früher mit dessen Vater liiert, aber das war lange her. Paul war damals noch ein Teenager und wuchs bei der Mutter auf. Ein Kind, das mit der Trennung seiner Eltern nur schwer zurechtkam. Immer wieder tickte der Junge aus und fiel durch aggressives Verhalten auf. Verständlich, wenn die Welt einer Kinderseele zerbricht, sie hatte damals Verständnis für ihn und seine Ausraster. Wie lange hatten sie sich nicht mehr gesehen? Das müssen weit über dreißig Jahre her sein, wenn nicht noch länger. Der arme Paul!…